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Zweiherz

Titel: Zweiherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Babendererde
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verschwand.
    Wahrscheinlich ist Mike Northridge der Einzige unter den Gästen, der noch nichts von Wills überraschender Rückkehr gehört hat, ging es Kaye durch den Kopf. Sie setzte sich auf die breiten Steinstufen vor dem Hauseingang und lauschte dem sirrenden Geräusch der Sprinkleranlage, die den Rasen bewässerte. Es war schon dunkel, doch ein voller Mond tauchte alles in geisterhaft helles Licht. Ihrer glühenden Farben beraubt, wirkten die Felsen, die das Haus umgaben, wie Festungen aus der Unterwelt.
    Kaye hörte die Musik und das Lachen der anderen aus dem Haus dringen. Sie hatte keine Lust mehr auf Party. Will geisterte in ihrem Kopf herum, und vermutlich würde sie nicht eher Ruhe finden, bis sie wusste, woran sie mit ihm war.
    Was er jetzt wohl gerade machte? Vielleicht saß er mit seinem Großvater in der Küche am Holztisch und erzählte. Wie gern wäre sie dabei! Sie wollte hören, was Will zu erzählen hatte, was in seinem Inneren vor sich ging. Und sie wollte wissen, ob das Versprechen, das er ihr einst gegeben hatte, noch Gültigkeit besaß.
    Als wäre es gestern gewesen, erinnerte sie sich daran, wie unglücklich sie gewesen war, als Will auf diese Schule in New Mexico gehen musste. Beim Abschied hatte sie geheult und er - selbst den Tränen nah - war vollkommen durcheinander gewesen.
    »Nicht weinen, Kaye«, hatte er gesagt. »Ich komme doch in den Ferien wieder.«
    »Wie soll ich das aushalten?«
    »Indem du an was Schönes denkst.«
    »An was denn?«, hatte sie gefragt und herzzerreißend geschluchzt.
    Das hatte Will endgültig aus der Fassung gebracht, weil er es nicht gewöhnt war, dass sie weinte. »Na, an unsere Hochzeit zum Beispiel.«
    Damals hatte sie nicht im Geringsten daran gezweifelt, dass er es ernst meinte. Ihr Tränenstrom war augenblicklich versiegt. »Wir heiraten?«
    »Klar.«
    »Versprochen?«
    »Versprochen.«
    Wenn sie jetzt daran zurückdachte, wie furchtbar der Abschied gewesen war, dann hatte sie das Gefühl, als ob sie beide damals schon geahnt hätten, dass die unbeschwerte Zeit der Kindheit vorüber war.

    Shelley kam aus dem Haus. Als sie Kaye sah, kam sie zu ihr und hockte sich vor ihre Knie. »Bist du mir jetzt böse?«, fragte sie zerknirscht.
    »Du hättest es nicht überall herumerzählen dürfen«, sagte Kaye. »Wills Chancen, einen Job zu finden, stehen schlecht, wenn jeder hier weiß, dass er im Gefängnis war.«
    »Ach, Kaye, das wissen doch sowieso alle. Meine Mutter hat ihn heute gleich wiedererkannt, als er auf dem Parkplatz stand. Fünf Jahre sind eine lange Zeit, aber nicht lang genug, um jemanden zu vergessen.« Shelley, deren Stimme auf einmal ernst klang, seufzte. »Es tut mir trotzdem leid. Ich wusste nicht, dass es dich so sehr stören würde, wenn ich den anderen von dir und Will erzähle.«
    Kaye erhob sich und zog ihre Freundin mit auf die Beine. Sie hatte einen Entschluss gefasst. »Dafür musst du mir einen Gefallen tun«, sagte sie bestimmt.
    »Ich tue alles für dich, wenn du mir nur nicht mehr grollst.« Shelley lächelte verschmitzt, denn sie kannte ihre Freundin und wusste, dass Kaye nie lange böse sein konnte.
    »Ich werde jetzt fahren«, sagte Kaye. »Wenn jemand nach mir fragen sollte, dann sag, ich hätte Kopfschmerzen gehabt und mich schon schlafen gelegt.«
    »Und wenn dein Vater hier anruft, weil er sich Sorgen macht?«
    »Ich habe Dad gesagt, ich würde bei dir übernachten.«
    Shelley grinste koboldhaft. »Alles klar. Ich werde schweigen wie ein Grab, aber nur wenn du mir morgen alles haarklein erzählst.«
    Darauf gab Kaye keine Antwort. Denn heute Abend hatte sie beschlossen, Shelley besser nichts mehr zu erzählen.

4. Kapitel

    D er schwarze Himmel über dem hohen Felsen war übersät mit funkelnden Sternen. Will starrte hinauf in den von winzigen Lichtpunkten durchlöcherten Nachthimmel und Tränen rannen unaufhaltsam über seine Wangen. Zwei Jahre lang hatte er das Sternenvolk nicht mehr gesehen. Kaum jemand konnte nachvollziehen, was das für einen wie ihn bedeutete, der seine Kindheit meist im Freien und im Einklang mit den alten Bräuchen verbracht hatte.
    Hózhó . Wandle in Schönheit.
    Jetzt bekam der Grundsatz der Navajo-Welt für ihn wieder einen Sinn. Seine Gefängniszelle in Gatesville hatte nur ein kleines Fenster gehabt, das in den Innenhof hinausging. Ein überhängendes Dach und eine hohe Backsteinmauer auf der gegenüberliegenden Seite hatten ihm die Sicht auf das Sternenvolk genommen. Und die Rundgänge im

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