Zweiherz
Freien waren immer am zeitigen Nachmittag gewesen, wenn die Sterne noch im Tageslicht verborgen waren.
Will hatte Hank, seinem Freund und Zellennachbarn, immer wieder die Geschichte vom Sternenvolk erzählen müssen. Wie es war, damals, ganz am Anfang, als Erster Mann und Erste Frau die Sterne noch wohlsortiert unter ihrer gewebten Decke verwahrt hatten. Und dann, gerade als sie sich daranmachen wollten, sie fein säuberlich geordnet am Himmelszelt aufzuhängen, kam Übeltäter Kojote, stahl ihnen die Decke und wirbelte das Sternenvolk durcheinander. In diesem heillosen Durcheinander funkelten sie seither vom Nachthimmel.
Im Gefängnis hatte die Geschichte Will jedes Mal traurig gemacht. Jetzt trank er die kühle Luft der Nacht und ergab sich vollkommen der Endlosigkeit des Universums, das ihn wie eine schützende Decke einhüllte. Will versuchte, das Land zu erspüren; das Ankommen auf vertrautem Boden. Jeden Atemzug schöpfte er tief aus, bis seine nackte Brust zu zerspringen drohte. Mühsam versuchte er zurückzufinden; zurück zu den wahren, den wirklich wichtigen Dingen im Leben eines Navajos: dem Land, dem Wasser, den Tieren und den Pflanzen.
Vielleicht war es noch nicht zu spät. Vielleicht war es den Aufsehern und den anderen Häftlingen im Gefängnis doch nicht gelungen, ihm seine Seele zu stehlen. Auch wenn er sich oft kalt und leer gefühlt hatte, nach allem, was er gesehen und erlebt hatte. Wenn er es schaffte, diese Dinge zu vergessen, dann konnte er vielleicht die Zeit vor dem Gefängnis wieder lebendig werden lassen, um an die Zukunft anzuknüpfen.
Zukunft? Was war das überhaupt für ihn? Während der zäh dahinfließenden Stunden in seiner Zelle hatte er eins begriffen: Das Big Res, das große Navajo-Reservat, war seine Vergangenheit und seine Zukunft. Er hoffte, dort sein Leben zurückzubekommen.
Aber nun, da er wieder hier war, wusste er plötzlich nicht mehr, wie er es anfangen sollte. Wo begann der Weg, den er gehen musste, um zu Harmonie und Schönheit zurückzufinden? Begann er hier, zwischen den roten Felsen? War er stark genug, ihn allein zu gehen?
Obwohl Will ahnte, dass er es nicht alleine schaffen würde, wollte er es doch versuchen. Denn wenn er jemandes Hilfe beanspruchte, würde er erzählen müssen, was damals vor fünf Jahren wirklich passiert war. Und das konnte er nicht. Unmöglich.
Will hockte am Fuße des Finger Rock, einem senkrecht aus dem Boden steigenden, bei Tage rötlich gelben Sandsteinmassiv. Fast zwanzig Meter ragte es in die Höhe und hatte die Form einer verwachsenen Hand mit sieben Fingern. Es war ein magischer Ort; ein Ort voller Kraft - sein Lieblingsplatz. Hier wollte er den Jungen wiederfinden, den er vor sieben Jahren zurückgelassen hatte, als sein Vater ihn auf dieses Internat nach New Mexiko schickte. Dorthin, wo alles Unglück begann.
Will sträubte sich gegen die Erinnerung, der er hilflos ausgeliefert war. Es würgte ihn in der Kehle, und er holte tief Luft, um den Geruch des brennenden Holzes einzusaugen. Die Nacht war kühl, aber Will hatte ein wärmendes Feuer aus Wacholderzweigen zu seinen Füßen. Sehr lange hatte er vor keinem lebendigen Feuer mehr gesessen und es gefüttert. Er liebte den aromatischen Geruch des brennenden Holzes, das Knacken der Äste, wenn die Feuchtigkeit in ihnen sich ausdehnte.
Die Flammen warfen den Schatten seines Körpers an den roten Stein des Felsens und ließen ihn dort tanzen. Seine Brust glühte vor Hitze und sein Rücken war empfindlich kalt. In diesem Moment spürte er seinen Körper so lebendig wie lange nicht mehr. Er war frei. Sein Körper war frei. Aber etwas hielt seine Seele immer noch gefangen.
Mit zwei Fingern schmierte Will sich feuchten weißen Lehm aus einer Tonschale ins Gesicht und sang dabei leise auf Navajo vor sich hin.
Nahasdzáán nihimá.
Yádilhil nihitaa’.
Jíhonaa’éí nihik’éé’ diildíín.
Tléhonaa’éí dó’.
Éí bik’ehgo kééhwiit’í.
Die Erde ist unsere Mutter.
Der Himmel ist unser Vater.
Die Sonne gibt uns Licht.
Der Mond tut es.
Alle wurden gemacht, damit wir mit ihnen leben.
Die Worte kamen tief aus seinem Inneren, und tiefer noch: aus dem Inneren der Erde. Seine Stimme war erst unsicher und brüchig, doch dann wurde sie fester und dunkel wie die Nacht über dem Finger Rock. Während Will sang, spürte er, wie das Land ihn willkommen hieß. Sein Körper berührte den Boden, die Geister hörten seinen Atem, der Felsen erkannte seine Stimme. Die kleinen
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