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Zweiherz

Titel: Zweiherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Babendererde
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kamen die anderen Frauen und halfen mir.
    Der fertige Teig wurde in das Feuerloch gelegt, eingehüllt in Maisblätter. Und ich musste wieder laufen. Diesmal weiter und schneller als beim ersten Mal. Ich habe dabei an dich gedacht, Will. Wie wir immer zusammen gerannt sind und du mich jedes Mal eingeholt hast. (Weil du die längeren Beine hattest.)
    Als ich zurückkehrte, lief ich in den Hogan und einmal im Uhrzeigersinn um das Feuer herum. Mom sagt, gegen den Uhrzeigersinn zu laufen, wäre respektlos gegenüber den diyin , den Wissenden Leuten.
    Dann wurde ich den Wissenden Leuten vorgestellt. Großvater Sam hat die ganze Nacht gesungen, alle haben gesungen. Ich war so müde, aber ich durfte nicht einschlafen. Und am Morgen war der Kuchen dann endlich fertig. Ich musste ihn in Stücke schneiden und an alle verteilen. Ich war mächtig aufgeregt, als ich den Kuchen anschnitt. Tante Wilma hat gesagt, wenn er nicht richtig durchgebacken ist, bedeutet das, dass ich ein schweres Leben haben werde.
    Ich hatte Glück, Will. Der Kuchen war gut durchgebacken. Und ich war so müde und glücklich. Als alle weg waren, bin ich ins Haus gerannt und habe in den Spiegel gesehen. Ich sah nicht anders aus als vorher, aber ich fühlte mich ganz anders. Jetzt bin ich eine Frau.
    Vielleicht kann ich nun schneller rennen als du.
    In Liebe, deine Kaye
    Will schluckte und legte diesen Brief zu den anderen, die er bereits gelesen hatte. Er löschte das Licht an seinem Bett, verschränkte die Arme im Nacken und starrte in die Dunkelheit. Was er da tat, war schmerzhaft, aber er konnte nicht anders. Er konnte nicht mehr aufhören. Seit er angefangen hatte, den ersten von Kayes ungeöffneten Briefen zu lesen, war es für ihn wie zu einem Zwang geworden. Er wollte alles wissen. Wie es ihr in den fünf Jahren ergangen war, was sie erlebt und gefühlt hatte. In Kayes Briefen durchlebte er seine eigene, verlorene Zeit des Erwachsenwerdens.
    Ihre Schrift veränderte sich mit jedem Brief. Aus der Kinderschrift waren die straffen Züge einer selbstbewussten jungen Frau geworden. Als Kaye ihre kinaaldá, die Reifezeremonie hatte, war sie vierzehn gewesen. Ihm fehlten immer noch drei Jahre. Drei Jahre, in denen viel passiert sein konnte. Sie war so schön, so lebendig, so klug. Das konnte doch den anderen jungen Männern im Reservat nicht verborgen geblieben sein …
    Aber daran wollte Will jetzt nicht denken. Seine Zuneigung zu Kaye hatte ihn durch die Gefängniszeit gebracht. Eine Zeit, in der er kaum etwas anderes gefühlt hatte als Wut und Schmerz.
    Wie nahe sie ihm war. Sogar jetzt und hier, in der tröstenden Dunkelheit seines Zimmers, konnte er ihr Lachen hören und den frischen Yuccaduft ihrer Haare atmen. Jeder Brief, den er mit seinem zweischneidigen Messer öffnete, brachte sie ihm noch näher. Will erlebte Gefühle, die er lange tot geglaubt hatte. Manchmal schien es ihm, als wäre er niemals fort gewesen aus Dinétah , der Heimat seines Volkes. Das war ein gutes Gefühl, aber es entsprach nicht der Wahrheit.
    Ch’eená nennen die Navajo ihre Trauer um etwas, das nie zurückkehren wird. Manch einer starb daran.
    Will war krank und er wusste es. Großvater Sam hatte ihm erzählt, dass es viele Dinge gab, die krank machen konnten. Dazu gehörte auch Unbeherrschtheit, der Mangel an Selbstkontrolle. In blinder Wut auf seinen Direktor loszugehen, war ein Mangel an Selbstkontrolle. Genauso wie die Tatsache, dass er dem Mann den Tod gewünscht hatte. Großvater Sam hatte gesagt, ein Verbrechen würde immer Motiv und Tat umfassen. Jemandem den Tod zu wünschen, war also ein Verbrechen und konnte krank machen.
    Will hatte sich vorgenommen, nach seiner Rückkehr alles daranzusetzen, Heilung zu finden. Doch die Männer im Water Hole Canyon hatten seine Pläne durchkreuzt. Die Ereignisse überstürzten sich und er war mittendrin. Er hasste die Männer, die den steinernen Flötenspieler gestohlen und Aquilar so schwer verletzt hatten. Und gleichzeitig war ihm klar, dass er das nicht durfte. Wenn es ihm doch nur gelingen würde, seine Gefühle zu beherrschen. Aber sie beherrschten ihn und es gab keine Möglichkeit auszuweichen. Aus diesem Grund war Kojote hinter ihm her, und Will wusste, er würde seine ganze Kraft brauchen, um Zweiherz zu widerstehen.
    Er wälzte sich in seinem Bett, stöhnte in der Hitze der Nacht. Kojote war da draußen. In der Dunkelheit schlich der Vierbeinige um das gelbe Holzhaus. Sein Fell streifte an den verwitterten Brettern und

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