Zweiherz
es aus wie ein Adler mit ausgebreiteten Schwingen. Ich habe immer nach einem hellblauen oder weißen Pickup mit diesem Adler Ausschau gehalten. Aber heute sind wir auf dem Weg hierher an der Bingohalle vorbeigekommen. Davor stand ein weißer Ford Lieferwagen, und der Werbeschriftzug der Bingohalle sieht aus wie ein Adler, wenn du die Augen ein wenig zusammenkneifst. Der Ford gehört Ted Northridge, hat Kaye gesagt.«
Aquilar antwortete nichts und wandte seinen Blick nun ebenfalls zum Fenster, als ob er das gar nicht hätte wissen wollen.
»Sag mal...«, setzte er an.
Will sah zu ihm herüber. »Aoo’?«
»Ich muss noch eine Frage loswerden, jetzt wo wir mal allein sind.«
»Okay, schieß los.«
»In der Nacht im Canyon, als ich im Flussbett lag und mich nicht rühren konnte, und der Pickup kam auf mich zu... kam auf uns zu...«
Will senkte den Blick.
»Wieso hast du so lange gezögert, mich da wegzuholen, Will? Ich dachte schon, du lässt mich im Stich. Ich hatte Todesangst, verdammt...«
Will zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. »Ich auch, Aquilar«, sagte er. »Ich auch.«
»Aber...?«
»Etwas hat mich gelähmt, mich festgehalten.«
»Etwas?«
Will holte tief Luft und sprach dann aus, was ihn quälte. »Ein Kojote war da. Er ist mir auf den Fersen, seit ich wieder im Reservat bin. Mein Großvater sagt, er verfolgt mich, weil ich schwach bin. Zweiherz will mich in die Unterwelt ziehen wie meinen Vater. Er war im Canyon und seine Augen glühten.«
Nun war es raus.
Ein Ausdruck von Bestürzung zog über Aquilars Gesicht. »Junge, Junge«, sagte er. »Da hat dein Großvater dir aber einen mächtigen Schrecken eingejagt.«
Überrascht blickte Will seinen Freund an. »Aber ich bin doch nicht verrückt, Aquilar. Ich habe ihn gesehen.«
»Das bestreite ich ja auch nicht. Aber all diese Kojotegeschichten... da ist auch eine Menge Aberglaube dabei.«
»Das sagst ausgerechnet du, der zukünftige Sänger und Heiler?«
»Will«, sagte Aquilar. »Ich bin dein Freund, und als dein Freund sage ich dir: Lass dich von Graubein Kojote nicht fertigmachen. Er ist nichts weiter als ein Unruhestifter und mit Sicherheit kein böser Zauberer. Es gibt keine bösen Zauberer, nur Menschen, die sich falsch entscheiden.«
Will starrte blind vor sich hin.
»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Aquilar besorgt.
»Ich weiß nicht. Großvater will eine Heilungszeremonie für mich abhalten.«
»Das ist gut. Ja, das ist eine gute Idee. Danach wirst du dich besser fühlen. Und vergiss den Kojoten.«
Sam Roanhorse hatte den Grauen Star. Noch waren seine Linsen nicht völlig eingetrübt, aber die Krankheit würde fortschreiten und ihn irgendwann völlig erblinden lassen. Doch auch nachdem die junge Ärztin ihm mit Kayes Unterstützung eine Stunde lang gut zugeredet hatte, war Sam nicht dazu bereit, das Übel durch eine Operation beheben zu lassen. Selbst die Argumente eines hinzugeholten Navajo-Arztes halfen nicht. Erst wollte Sam jemanden den Heilgesang für sich singen lassen.
Er war ein alter Mann und hatte noch nie etwas von Krankenhäusern gehalten. In seiner Jugend hatte es hier in der Gegend nicht mal eins gegeben. Krankenhäuser waren steril und befremdlich, und wenn man nicht aufpasste, verschwand man für immer darin oder kam nur in einer Kiste wieder heraus. Sam Roanhorse fürchtete, eine Nacht in diesem Betonbau zu verbringen, würde er nicht überleben. Er sehnte sich zurück auf sein Land und zu seinen Schafen.
Will war nach seinem Besuch bei Aquilar noch schweigsamer geworden, und Kaye fragte sich, was für Gedanken in seinem Kopf herumgeisterten. Und sie fragte sich, wie sie ihm helfen konnte, ohne seinen Stolz zu verletzen oder zu nah an sein wohlgehütetes Geheimnis zu kommen.
17. Kapitel
A m Tag darauf bekam Kaye in ihrem Laden Besuch von ihrer Freundin Shelley. Sie beschwerte sich, dass Kaye überhaupt keine Zeit mehr für sie habe und nicht einmal mehr zum Essen ins Green Garden kommen würde. Das stimmte nicht. Kaye war zwei- oder dreimal da gewesen, aber Shelley hatte zu tun gehabt und deshalb hatten sie nur kurz miteinander sprechen können.
Shelley hatte zwar gehört, dass einem Navajo-Jungen über die Beine gefahren worden war, aber viel mehr wusste sie nicht. Da die Polizei die Ermittlungen im Fall der gestohlenen Felszeichnungen nicht gefährden wollte, war der Diebstahl der Zeichnungen erst jetzt in die Presse gelangt, mit der Bitte auf sachdienliche Hinweise.
»Du weißt doch was
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