Zweiherz
Er griff nach Kayes Händen und zog sie wieder ganz nah an sich heran, bis Haut an Haut lag. Er hörte ihr Herz schlagen und stammelte etwas auf Navajo. Da küsste sie ihn. Warm und fest lagen ihre Lippen auf seinen. Ihre Zunge schob sich in seinen Mund und begann, ihn langsam zu erforschen.
Will spürte sein Verlangen, und er wusste, dass Kaye bereit war, mit ihm zusammen zu sein. Er war es auch. Aber erst mussten sie reden. Jetzt half nur noch die Wahrheit. Sanft schob er sie von sich, begann mit nervösen Fingern, die Knöpfe ihrer Bluse wieder zu schließen.
»Will«, sagte Kaye. »Ich liebe dich.«
Er sah sie an und fragte sich, was ihre Worte für ihn bedeuten konnten. Vielleicht dass sie ihn verstehen würde, wenn er ihr von seinen verzweifelten Mundwaschungen erzählte, von seinen qualvollen Träumen, seiner Angst und seiner Schuld. Vielleicht würde Kaye ihn verstehen.
»Ich habe so lange auf dich gewartet«, sagte sie. »Ich möchte mit dir schlafen, hier und jetzt. Ich werde es mit keinem anderen tun. Du hast mir schon an die Brust gefasst, als ich zwölf war. Warum fällt dir das jetzt so schwer?«
Es gelang Will nicht mehr rechtzeitig, ein Lächeln zu unterdrücken. »Damals warst du vorne ziemlich platt.«
»War ich«, sagte sie und lächelte ebenfalls. »Aber dir hat es trotzdem gefallen. Und mir auch. In meinem Inneren bin ich noch dieselbe, Will.«
»Aber ich bin nicht mehr derselbe.« Er glitt an ihr vorbei und setzte sich auf das Feldbett.
»Ich weiß«, erwiderte sie und setzte sich ihm gegenüber auf den Schemel.
» Was weißt du?«
Kaye holte tief Luft. »Ich weiß, was in deiner Schule passiert ist.« Sie wartete nicht darauf, dass er etwas erwiderte, sondern redete entschlossen weiter. »Ich war heute in deinem Zimmer. Ich habe die Zeitungsausschnitte gelesen und den Rest konnte ich mir zusammenreimen. Ich weiß auch, dass der Kojote hinter dir her ist. Ich habe ihn gesehen.«
Im Hogan war es still, aber draußen und in Wills Innerem tobten die Naturgewalten. Sie spürte, wie er mit sich kämpfte.
Kaye fasste nach seinen Händen. »Sei nicht wütend auf mich, Will, weil ich es herausgefunden habe. Sei bitte nicht wütend .«
Dass Kaye Bescheid wusste, musste Will erst verdauen. Doch im Grunde war er froh, dass es endlich heraus war. Ich liebe dich , hatte sie gesagt. Sie hatte es gesagt, obwohl sie alles wusste.
Während draußen der Regen das trockene Land tränkte, saßen Kaye und Will im Hogan und hielten sich an den Händen. Und endlich begann er zu reden.
Will erzählte von der Internatsschule und dem Direktor, der sich unter Ausnutzung seiner Position an kleinen Jungen vergriffen hatte. Er sprach von seinem Leid, seiner Scham, seinem Ekelgefühl und der Angst, die Schande könnte entdeckt werden. Er weinte.
»Und du hast dich nie jemandem anvertraut?«, fragte Kaye.
»Ich war damals zwölf, und ich wusste, mein Leben würde nie mehr wie vorher sein. Das Schlimme war, dass ich glaubte, ich wäre der Einzige, dem das widerfuhr. Ich hatte Angst, der Makel würde ewig an mir haften, wenn erst alle Bescheid wüssten. Ich wollte nicht, dass die Schande öffentlich wurde, dass jemand hier im Reservat davon erfuhr - schon gar nicht du. Außerdem war ich der Meinung, niemand würde mir glauben. Feldman war sehr beliebt bei seinen Kollegen. Ich war sehr einsam, Kaye, aber ich habe versucht, durchzuhalten.« Aus seiner Kehle kam ein rauer Ton. Er hob den Kopf, senkte den Blick aber sofort wieder. »Und von einem Tag auf den anderen ließ das Schwein mich plötzlich in Ruhe.«
Will schwieg eine Weile, und Kaye wehrte sich gegen die Bilder, die in ihrem Kopf auftauchten.
»Aber dann passierte es«, fuhr er schließlich fort. »Scotty, ein Lakotajunge, erhängte sich im Keller des Internats. Er war erst elf Jahre alt und er war mein Freund.«
Der Junge auf dem Foto, dachte Kaye.
»In Scottys Zimmer fand ich seinen Abschiedsbrief, in dem er alles offenbarte. Auch er war von Feldman missbraucht worden, und ich ahnte auf einmal, dass Scotty und ich nicht die Einzigen waren, die so zu leiden hatten. Meine Wut war grenzenlos. Ich bin durch das Fenster in Feldmans Wohnung eingestiegen und drohte ihm, die ganze Geschichte öffentlich zu machen. Aber er lachte nur. Er lachte mich aus, als wäre ich nicht mehr als ein kleines Stück Dreck. Da bin ich auf ihn losgegangen, voll wildem Hass, und er fiel mit dem Kopf gegen diesen Tisch. Ich wollte ihn nicht umbringen, Kaye«, sagte Will
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