Zweiherz
Wo war Will vorletzte Nacht?«
Sam zeigte nach draußen, auf die Wiese zwischen Haus und Felsen.
»Was hat er denn dort gemacht?«
»Gegen den Kojoten gekämpft.«
Kaye schluckte. Sie glaubte dem Alten inzwischen aufs Wort. Schließlich hatte sie den Grauen selbst gesehen. »Ist Will noch oben auf der Mesa?«
Sam Roanhorse antwortete nicht.
Kaye stand auf und ging hinaus. Der alte Navajo zog seinen Teller wieder heran und begann zu essen.
20. Kapitel
D er Mesapfad zwischen den Salbeibüschen wurde immer steiler. Kaye hastete über das lose Geröll. Es war drückend schwül, irgendwo braute sich ein Gewitter zusammen. Das Atmen fiel ihr schwer. Sie wälzte die Dinge, die geschehen waren, immer wieder in ihrem Kopf herum. Für nichts wollte ihr eine Erklärung einfallen. Sie hoffte, Will hatte ein paar Antworten auf ihre vielen Fragen.
Als Kaye das Plateau der Mesa erreichte, türmten sich im Norden schwarze Wolken über der kiefernbewachsenen Hügelkette der Chuska Mountains. Es war erst Nachmittag, aber das herannahende Regenvolk tauchte alles in ein unheimliches Zwielicht. Die Luft war so reglos, als stünde ein schwerer Sturm bevor.
Sie blickte sich suchend um und lauschte, hörte das Blöken der Lämmer und Jaspers Bellen. Die Schafe waren irgendwo in der Nähe. Sie entdeckte Wills Hengst, der sich an Büscheln des Blue Gramagras gütlich tat.
Im Hogan war niemand. Die Tür stand offen, und Kaye sah, dass Vorräte im Regal standen und eine Matratze und Decken auf dem Feldbett lagen. Hatte Will vor, sich längere Zeit hier oben zu verstecken? Aber warum?
Sie lief zum westlichen Rand der Mesa und blickte ins Tal hinab. Bis hin zu den dunklen Hügeln der Chuska Mountains erstreckte sich eine Landschaft aus roten Felsen, hier und da von einer tiefen Schlucht zerrissen. Hellrot leuchtend standen die Felsen vor der dunklen Gewitterfront, die schnell näher kam. Grelle Blitze zuckten und der Donner folgte rasch.
Wo steckte Will?
Ashkii wieherte unruhig und das Blöken der Schafe wurde lauter. Schließlich sah Kaye Will mit einer Ladung Feuerholz auf dem Rücken vor der schwarzen Gewitterfront auftauchen. Er schien ein wenig überrascht zu sein, als er sie sah. Aber wie jeder Navajo besaß auch er die Gabe, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen.
Er grüßte Kaye mit den Augen. Dann befahl er Jasper, die nervösen Schafe in den Canyon zu treiben, wo sie unter einem Felsvorsprung vor dem nahenden Gewitter Schutz suchen konnten.
»Es wird gleich regnen«, sagte er. Schweiß rann über seine nackte Brust. Die kleine Fruchtbarkeitsgöttin war nicht mehr da.
»Ich bin weder blind noch taub«, erwiderte Kaye.
»Und was machst du dann hier oben?«, fragte er. »Du solltest in deinem sicheren Haus sein.« Will machte eine Handbewegung nach Westen.
Kaye musterte ihn. Das lange Haar fiel ihm offen auf die kräftigen Schultern und der aufkommende Wind schlug es ihm über die Lippen. Ein paar Strähnen blieben auf seinen feuchten Wangen hängen und er strich sie sich aus dem Gesicht. Das einzige Kleidungsstück, das er trug, war eine ausgebeulte schwarze Kordhose, die so altmodisch geschnitten war, dass sie vermutlich Großvater Sam gehörte.
»Hör auf, mich so anzusehen«, sagte er. Das Atmen fiel ihm immer noch schwer nach dem steilen Aufstieg. Er war schnell gegangen, um vor dem Regen wieder im Hogan zu sein.
»Ich muss mit dir reden, Will.« Eine Windböe wirbelte feinen Sand auf und fegte ihn Kaye ins Gesicht. Instinktiv schloss sie die Augen. Die gröberen Sandkörner piekten auf der Haut wie Nadelstiche.
Will wies hinüber zum Hogan und sie folgte ihm rasch hinein. Drinnen warf er das Holz neben den gusseisernen Herd. Mit den Fingerspitzen rieb sich Kaye den Sand aus den Augen und blickte sich um.
»Gemütlich«, sagte sie.
Er deutete auf das Feldbett mit der Matratze und Kaye setzte sich gehorsam. Mit einer Kelle schöpfte er Wasser aus einem Eimer und goss etwas in eine Blechtasse. Die Tasse reichte er ihr.
»Ahééh« , sagte sie und trank die Tasse mit einem Zug leer.
Will trank ebenfalls, dann stellte er die Tasse ins Regal zurück. Er zog sich einen niedrigen Schemel aus roh gezimmertem Holz heran und hockte sich genau vor Kayes Beine.
»Und«, fragte er, »worüber wolltest du mit mir reden?«
Ihr Blick glitt über sein dunkles Gesicht, aus dem vollkommene Ahnungslosigkeit sprach. In diesem Augenblick erkannte sie etwas in ihm: Will hatte sich verändert, er hatte neue Kraft
Weitere Kostenlose Bücher