Zweiherz
leise. »Er ist einfach unglücklich gefallen.«
»Und du hast nichts gesagt?«, fragte sie. »Du hast dich verhaften lassen und für zehn Jahre einsperren und hast nichts gesagt?« Sie versuchte, sich das Entsetzen und die Enttäuschung in ihrer Stimme nicht anmerken zu lassen, doch es gelang ihr nur schlecht.
Will hielt ihre Hände fester.
»Feldman starb im Krankenhaus, und die anderen Jungen wollten nicht, dass darüber geredet wurde. Sie glaubten, nun wäre alles vorbei. Damals habe ich gedacht, dass die Wahrheit uns allen nicht helfen würde, am allerwenigsten mir, denn dann hätte ich mich im Gefängnis auf etwas gefasst machen können. Im Knast gibt es welche, die sind wie Tiere, Kaye.« Er ließ sie los und schlug seine Hände vors Gesicht.
Kaye beugte sich nach vorn und umarmte ihn. »Ich hätte für dich da sein müssen«, flüsterte sie zwischen seinen Schluchzern. »Ich hätte dir einen Anwalt besorgen, dich nicht allein lassen sollen.«
»Meinst du, ich hätte dann geredet?«, fragte Will, als er sich wieder unter Kontrolle hatte. »Es war so grauenhaft. Ich hatte einen Menschen auf dem Gewissen und musste dafür bestraft werden.«
»Ich hätte dich schon zum Reden gebracht«, sagte sie. »So wie jetzt.«
Die Nacht über der Mesa wurde alt, der Morgen jung. Wie Changing Woman , Wechselfrau, die alt und gleichzeitig auch jung sein konnte. Sie hatte Erster Mann und Erste Frau geschaffen, sie war die Gottheit des erwachenden Lebens. Auch Kaye fühlte sich nach dieser Nacht, als würde ihr Leben neu beginnen. Zwar wusste sie immer noch nicht, wie es wirklich war, aber das war auf einmal nicht so wichtig. Will hatte geredet, sie waren zusammen. Nahat’á , nennen die Navajos die Zukunft des Lebens.
Der Duft von frisch gebrühtem Kaffee stieg ihr in die Nase und sie setzte sich auf. Will hantierte geschäftig am gusseisernen Herd, bis er merkte, dass sie wach war. Er kam zu ihr herüber und gab ihr einen zärtlichen Kuss.
»Bist du enttäuscht?«, fragte er.
Sie hatten beinahe die ganze Nacht nebeneinander gelegen und geredet. Fünf Jahre ohne den anderen, das war eine lange Zeit. Erst gegen Morgen waren sie erschöpft Seite an Seite eingeschlafen.
Kaye schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich bin glücklich.« Sie schlang die Arme um seinen Hals, aber er machte sich von ihr los.
»Wir müssen in den Canyon steigen und die Schafe zusammensuchen. Ashkii ist auch weg.«
»Jasper hat sich bestimmt um die Schafe gekümmert«, sagte Kaye und schüttelte ihr langes Haar. »Er ist ein guter Hütehund. Und Ashkii ist sicher auch unten im Canyon.«
Will reichte ihr einen Becher Kaffee und ein Maisbrot, das er auf dem Herd aufgebacken hatte. Beides schmeckte köstlich.
Am liebsten wäre sie für immer mit Will im Hogan geblieben, denn sie hatte keine Vorstellung davon, was ihnen auf dem Polizeirevier bevorstand.
Bevor sie hinausgingen, um in den Canyon zu steigen, hängte Will ihr seine Jeansjacke über die Schultern. Die kühle Luft hatte die Klarheit von Quellwasser. Keine Wolke war am Himmel zu sehen und man konnte von der Mesa aus meilenweit über das Land blicken. Auf den Spitzen der Chuska Mountains schimmerte es weiß.
Kaye schob ihre Arme in die Ärmel der Jacke und knöpfte sie zu. Noch war ihr kalt. Aber die ersten Sonnenstrahlen begannen bereits zu wärmen.
Die Hagelkörner hatten kleine Vertiefungen im Sand um den Hogan hinterlassen. Die Wacholderbüsche waren zerzaust, aber ihre Nadeln leuchteten in frischem Grün.
»Gehen wir!«, sagte Will. »Es ist schon spät.«
Von Ashkii war nichts zu sehen. Doch als Kaye und Will den Grund des Canyons erreichten, kam der Hengst freudig schnaubend auf sie zu. Auch die Schafe hatten das Gewitter gut überstanden und waren schon wieder blökend auf Nahrungssuche. Jasper trieb sie bellend zusammen. Will half Kaye aufzusteigen, dann schwang er sich hinter ihr auf den Pferderücken.
Bis zu Großvater Sams Haus brauchten sie beinahe zwei Stunden, weil die Schafe sich nur langsam vorwärtstreiben ließen. Immer wieder zupften sie grüne Hälmchen und Blätter.
Will duschte und zog sich um. Sein Haar nahm er im Nacken mit einem breiten Gummiband zusammen. Der alte Sam musterte Kaye, stellte aber keine Fragen. Vielleicht konnte er fühlen, dass die beiden jungen Menschen, die er mehr liebte als sein Leben, im Frieden miteinander waren. Er ging nach draußen, um das Pferd trocken zu reiben und ihm ein paar Körner zu geben.
Kaye machte sich frisch, wand
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