Zweilicht
Bärenfell, auf dem sie saß, wärmte sie. Sie starrte auf den Boden und versuchte das geometrische Muster zu erahnen. Aber der Marmor war so staubig, dass man es nur in dem breiten Streifen sah, der entstanden war, als sie die Felle neben die Säule geschleift hatten. Sieht aus wie der Fluss, den ich überqueren muss, um zu Jay zu kommen, dachte sie. Aber selbst der breiteste Fluss ist kein Vergleich zu dem unsichtbaren Abgrund, der zwischen uns klafft. Mutlos ließ sie sich auf die Felle zurücksinken. Wenn sie die Augen schloss, konnte sie wieder sein Gesicht vor sich sehen. Seine vor Wut funkelnden Augen, das widerspenstige, braunrote Haar und die Art, wie er sich bemüht hatte, sich auf dem Ast in der Balance zu halten und gleichzeitig seine Haltung zu bewahren. Das brachte sie trotz allem zum Lächeln. »Er muss verrückt sein, er hat tatsächlich sein Leben aufs Spiel gesetzt … für ein Tier«, murmelte sie. »Und ist stolz und wird schnell wütend, aber irgendwie gefällt mir das an ihm. Trotzdem ist in seinen Bewegungen und seiner Stimme etwas Verhaltenes, als würde er sich nicht erlauben, der zu sein, der er ist. Er ist … wie ein Vulkan, der denkt, er sei ein Gletscher.«
Sie öffnete die Augen nicht, als sie spürte, wie Faye sich neben sie legte. Ihr Kopf sank an ihre Schulter, und sie konnte der Versuchung nicht widerstehen, über Fayes ungewohnt kurzes Haar zu streichen.
»Stell dir vor, er hat mich sogar angeschrien und mit Polizei gedroht. Und kurz darauf wollte er mich retten. Vor Autos.«
»Autos, echt?«
Jetzt mussten sie beide lachen. Aber ebenso schnell wurden sie wieder ernst.
»Wie viele sind es?«, fragte Faye.
»Insgesamt? Zu seinem engeren Kreis gehören nur ein paar – vier, vielleicht fünf.«
» Nur fünf?« Sie konnte fühlen, wie die Härchen auf Fayes Haut sich zu einer Gänsehaut sträubten. »Es sind zu viele! Geh nicht mehr über den Fluss! Es ist zu gefährlich, Kleine. Du hast längst verloren und du weißt es. Er gehört ihr bereits und mit jedem Kuss wird dieser Zauber stärker – spätestens beim nächsten Vollmond wird er dich nicht einmal mehr sehen. Wahrscheinlich hält er dich jetzt schon für ein Gespenst.«
Das gab ihr einen Stich. Ihre Finger tasteten über das Fangnetz und krallten sich daran fest, als könnte es ihr Halt geben. Einige Tierhaare hatten sich in den Knoten verfangen und kitzelten ihre Fingerknöchel. Schaudernd zog sie die Hand zurück und betastete stattdessen verstohlen das Amulett. Es lag gut verstaut in ihrer Gürteltasche, sie konnte den Umriss des Kojotenkopfes durch den dünnen Stoff erfühlen. Es war fast lächerlich einfach gewesen, die Kette mit dem Anhänger zu stehlen. Jay war zwar wachsam, aber in den Moment, in dem er sie in den Armen gehalten hatte, war er lange genug abgelenkt gewesen.
Der Kojote, überlegte sie. Das Zweiherz-Amulett . Es bedeutet ihm etwas. Es hat ihm einen richtigen Schock versetzt, als ich den Namen des Kojoten ausgesprochen habe!
»Ich glaube, ich könnte doch eine Chance haben«, murmelte sie. »Ich muss ihn ja nur über die Grenze bringen. Und ich glaube, ich habe dafür den richtigen Köder.«
Faye setzte sich ruckartig auf, die Finger in den zarten Schleierstoff des Rockes gekrampft. »Was brütest du jetzt schon wieder aus? Jetzt erzähl mir bitte nicht, dass du ihn mit dem Netz fangen und fortschleppen willst!«
Ivy hoffte, ihre Schwester würde nicht merken, dass sie sich fast ein wenig ertappt fühlte. »Vergiss ihn, M… Ivy. Du hast ihn gesehen und sogar mit ihm gesprochen, aber seine Welt ist nicht die deine. Wir müssen ohnehin bald zurück. Es ist gefährlich genug, sich mitten unter ihnen zu bewegen, und an jedem Tag, an dem der Winter näher rückt, wird das Risiko größer und …«
»Es schneit noch lange nicht.«
»Woher willst du das wissen?«
»Ich spüre es. Wir haben noch Zeit.«
Sie wollte sich abwenden, aber ihre Schwester packte sie an den Schultern und zwang sie, ihr in die Augen zu sehen. »Ich weiß, warum du nicht von ihm lassen willst. Aber gib ihn auf!«, sagte sie eindringlich. »Er läuft auf Messers Schneide. Und wenn du ihm nachläufst, tötet sie auch dich!«
Ivy schluckte. Jetzt, wo die Erschöpfung sie endgültig überwältigte, fühlte sie sich wie im Fieber. Und gleichzeitig übermannte sie eine heiße Zärtlichkeit für ihre vernünftige, so besonnene Schwester. Sie zog Faye stürmisch an sich und umarmte sie so fest, dass diese nach Luft
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