Zwergenkinder (04) - Der Kristall der Zwerge
Geschöpfe schoben sich schlängelnd über den Wüstensand auf die Stadt zu. Sie schienen es nicht besonders eilig zu haben.
Warum habe ich das Innere eines Gebäudes gesehen? , überlegte Olba.
Seit einer ganzen Weile sah sie in ihren Gedanken immer wieder eine mit seltsamen Farben ausgeleuchtete Halle. Diese musste irgendetwas mit diesen riesenhaften Geschöpfen zu tun haben, die sich im Licht des vergehenden Tages in breiter Front den Stadtmauern von Hiros näherten.
Es waren Hunderte, vielleicht sogar Tausende. Hin und wieder waren tiefe brummende Laute zu hören.
»Die Leviathan-Reiter!«, sagte Lirandil in grimmigem Tonfall.
»Das sind Leviathane?«, fragte Olba ungläubig.
»Es gibt keine größeren Geschöpfe im ganzen Zwischenland und in Rhagardan«, erklärte der Fährtensucher mit sehr ernstem Unterton.
Angriff der Leviathane
D ie Sonne ging unter und war als rot glühender Feuerball bereits zur Hälfte im Meer versunken. Die ganze Stadt und die Wüste dahinter waren in dieses rötliche Licht getaucht, und die Stadtmauern und Wachtürme warfen lange Schatten in Richtung der herannahenden Leviathane. Aus der Ferne sahen sie aus wie übergroße Wale, die eine Riesenhand aus dem Wasser gefischt und an Land geworfen hatte.
Die massigen Geschöpfe schoben sich mit Macht über den Wüstensand und wirbelten ihn auf. Der ganze Horizont wirkte wie eine einzige Wand aus braungelbem Staub. Man konnte ahnen, wie viele Leviathane es sein mussten, die sich auf Hiros zubewegten.
Olba musste unwillkürlich schlucken.
»Ich sehe nur die Leviathane«, sagte sie. »Wo sind die Reiter ?«
»Du kannst sie mit deinen Augen aus dieser Entfernung kaum ausmachen«, antwortete Lirandil. »Ich allerdings sehe sie genau. Sie sitzen auf den Rücken ihrer Reittiere und lenken sie. Aber ein Großteil von ihnen ist …«
»Im Inneren der Leviathane?«, unterbrach Olba den Elb. Sie hatte seine Antwort offenbar vorausgeahnt.
»Ja«, bestätigte Lirandil. »Ich sehe nur sehr wenige Reiter auf den riesigen Wesen. Wo sollte der Rest von ihnen sonst sein, wenn nicht in diesen Geschöpfen?«
»Genau wie bei den Bewohnern des Eislandes, die Ihr erwähnt habt«, murmelte das Zwergenmädchen.
»Du hast gut zugehört«, stellte Lirandil fest.
»Muss es da drinnen nicht furchtbar dunkel sein?«
Lirandil wunderte sich ein wenig, dass Olba angesichts der Bedrohung darüber nachdachte, wie dunkel es im Inneren eines Leviathans war. Doch er wusste, dass es meistens mit Olbas seherischen Fähigkeiten zusammenhing, wenn sie scheinbar unpassende Fragen stellte. Vielleicht sah sie etwas voraus, das sie nicht einzuordnen vermochte.
»In einem Leviathan ist es nicht dunkel«, antwortete er deshalb.
»Wart Ihr schon einmal im Bauch eines solchen Ungetüms?«
»Ja«, bestätigte der Elb. »In einem Leviathan aus dem Eisland. Ihr Blut schimmert grünlich. Wenn die Sonne auf den Körper strahlt, wird dieses Schimmern noch stärker. Und wenn sich der Leviathan dann in das Eis eingräbt, oft viele hundert Schritt tief, hält das Schimmern noch lange an, sodass man sich in seinem Inneren gut orientieren kann.«
»Sieht es dort aus wie in einem der Höhlengewölbe von Ara-Duun oder wie in einem großen Gebäude?«, hakte das Zwergenmädchen nach.
»Ja, genau.«
»Und ist es möglich, dort ein Feuer zu entzünden? Ich sehe nämlich Feuer vor meinem inneren Auge.«
Lirandil nickte. »Das ist möglich.«
»Dann bin ich mir sicher, dass wir uns in nicht allzu ferner Zukunft im Inneren eines Leviathans wiederfinden werden, Lirandil. Und dass wir große Angst haben werden!«
Lirandil wandte sich ihr zu. Olba sah voraus, was möglicherweise geschehen würde. Doch ihre Visionen reichten nicht sehr weit in die Zukunft, häufig nur wenige Momente, hin und wieder auch Tage. Aber es war ihr nicht möglich, zu sehen, was sich in Monaten, Jahren oder gar Jahrzehnten ereignen würde. Denn alles, was Tag für Tag geschah, veränderte die Zukunft so sehr, dass die fernere Zukunft ungewiss blieb. Wenn Olba nun also das Innere eines Leviathans sah, hieß das, dass sie sich dort wohl schon bald aufhalten würden.
Er hob die linke Hand und berührte mit Daumen und Zeigefinger Olbas Schläfe. »Konzentriere dich auf das, was du siehst«, verlangte er. »Und auf alles, was mit den Leviathanen zu tun haben könnte. Selbst, wenn es nur vage Ahnungen sind.«
»Deshalb habt Ihr mich hierher mitgenommen!«, entfuhr es Olba. Es war keine Frage, sondern eine
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