Zweyer, Jan - Rainer Esch 03
erreichte er eine nur angelehnte Wohnungstür. Er klopfte und Karin Schattler rief: »Ich bin im Verkaufsraum.«
Esch schloss die Wohnungstür hinter sich. Es roch nach Tabak und Alkohol. Er betrat einen Raum, der mit Regalen und großen Kühlschränken und Kühltruhen gefüllt war. In der Mitte stand ein einfacher Küchentisch mit drei Stühlen vor einem schlichten Sofa. Zwischen Zigarettenstangen und Rollmopsgläsern entdeckte Esch ein Fernsehgerät. An den Wänden war jeder freie Platz mit hochgestapelten vollen und leeren Getränkekisten belegt.
Von diesem Raum aus führte eine Tür in den eigentlichen Verkaufsraum, der mit noch mehr Regalen und Waren vollgestellt war. Esch nahm an, dass es sich bei dem Kiosk ursprünglich um eine normale Wohnung gehandelt hatte, die durch das Ausbrechen der Außenwände zum Büdchen mutiert war.
Karin
Schattler saß auf einem Stuhl links vom
Verkaufsfenster und stützte ihren Kopf mit beiden Händen. Sie sah sehr niedergeschlagen aus, fand Rainer.
»Bringen Sie sich einen Stuhl aus dem Lager mit«, forderte sie ihn auf. »Und wenn Sie einen Kaffee möchten, auch eine Tasse. Stehen neben den Kümmerlingen im linken Regal.«
»Frau Schattler«, begann Esch, als er sich ihr gegenüber zwischen Konservendosen und einer halb gefüllten Mineralwasserkiste niedergelassen hatte, »waren die Jugendlichen heute schon bei Ihnen?«
Karin Schattler blickte ihn aus verweinten Augen an. »Nein, noch nicht. Ist ja auch noch nicht Mittag. Die kommen meistens so gegen eins.«
Esch sah auf die Uhr. Halb Elf. Er trank einen Schluck Kaffee und griff zur Revalpackung. »Darf ich?«, fragte er.
»Natürlich. Stört mich nicht. Mein Mann raucht auch. Da vorne ist ein Aschenbecher.« Sie zeigte auf das Regalbrett hinter ihm.
Esch zündete seine Filterlose an. »Sagen Sie, was macht Ihr Mann auf dem Pütt?«, wollte er wissen, um die Unterhaltung in Gang zu halten.
»Mein Mann? Der ist Energieanlagenelektroniker. Der arbeitet… Einen Moment bitte.«
Vor dem Fenster war die Silhouette eines Mannes zu erkennen. Karin Schattler trat hinter den Verkaufstresen.
»Ja, bitte?«
»‘ne WAZ und eine Camel.«
Sie legte dem Kunden das Gewünschte auf das Brett und gab ihm, nachdem er einen Zehnmarkschein hingelegt hatte, das Wechselgeld zurück.
»Wiedersehen.« Ohne seine Antwort abzuwarten, schloss sie das Fenster.
Esch beobachtete, wie der Mann sein Geld verstaute und ging.
Karin Schattler setzte sich und begann plötzlich zu weinen.
Rainer fühlte sich völlig hilflos. »Sagen Sie, Frau Schattler, kann ich Ihnen irgendwie helfen? Ich komme auch gerne später wieder, wenn Ihnen das lieber ist.«
»Nein, bitte nicht. Bleiben Sie. Es ist… die Polizei war gestern Nachmittag bei mir. Mein Mann ist tot. Er…« Karin Schattler schluchzte erneut heftig auf.
»Oh, entschuldigen Sie. Das tut mir Leid, das wusste ich nicht«, stammelte Rainer verwirrt. »Aber gestern sagten Sie doch noch…«
Die junge Frau fasste sich wieder ein wenig. »Sie müssen sich nicht entschuldigen. Ich trage meine Gefühle eigentlich nicht vor mir her. Aber als Sie nach dem Beruf meines Mannes fragten…«
»Natürlich, ich verstehe.«
»Er wurde gestern Morgen tot in der Nähe seines Arbeitsplatzes auf Eiserner Kanzler gefunden.«
»Hatte er«, Esch schluckte, »einen Arbeitsunfall?«
»Das weiß ich nicht. Die Kriminalpolizei fragte mich, ob es Streit mit seinen Kollegen auf dem Bergwerk gegeben habe.
Ich habe ihnen erzählt, dass mir davon nichts bekannt sei. Ich musste gestern Nachmittag in die Gerichtsmedizin, um Heinz zu identifizieren.« Die Witwe stockte und wischte sich die Tränen aus den Augen. »Mein Mann wird noch obduziert. Erst dann kann ich ihn beerdigen.«
Sie sah Rainer unvermittelt an. »Sicherlich wundern Sie sich, dass ich heute hier im Kiosk bin, nicht?«
Esch hob abwehrend die Hände: »Nein, das müssen Sie…
doch, entschuldigen Sie. Ja, etwas schon.«
»Sie brauchen sich nicht dauernd zu entschuldigen. Natürlich sind Sie verwundert. Aber zu Hause würde mir die Decke auf den Kopf fallen. So kann ich mich wenigstens etwas ablenken.«
»Verstehe.«
»Herr Esch, ich wollte Ihnen noch etwas sagen… Moment.«
Ein kleines Mädchen, das mit ihrem Kopf kaum über das Brett reichte, wollte ein Wassereis haben, das Karin Schattler aus einer Kühltruhe im Lagerraum holte.
»Was sind eigentlich so die typischen Umsätze?«, erkundigte sich Esch. »Geht mich ja eigentlich nichts
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