Zweyer, Jan - Rainer Esch 03
um unmittelbar darauf wieder in Tränen auszubrechen. »Am Samstag hat er sich noch bei Meiers beschwert…«
»Meiers?«, unterbrach sie Brischinsky.
»Ja. Die wohnen in der Straße weiter unten. Es waren meistens ihre Kinder. Siegfried Meier hat Heinz angebrüllt, er solle sich um seinen Kram kümmern, und wenn er nicht sofort verschwinden würde, würde er es noch bereuen.«
»Waren Sie dabei?«
»Nein, Heinz hat es mir anschließend erzählt. Siegfried Meier ist hier in der Siedlung als jähzornig bekannt, deshalb hat Heinz auch nichts mehr gesagt. Hier zu Hause hat er sich dann abreagiert. Wissen Sie, das ist hier wie in einem kleinen Dorf.
Da kennt jeder jeden.«
»Arbeitet dieser Siegfried Meier auch auf Eiserner Kanzler?«
»Nein, nicht mehr. Der ist jetzt bei der Feuerwehr. Seine Frau ist in der Verwaltung der Bergwerks AG in Essen beschäftigt, deshalb wohnen die noch hier.«
Ein potenzieller Täter weniger, dachte der Hauptkommissar.
Er griff in seine Jackentasche und holte den braunen Umschlag heraus.
»Frau Schattler, wussten Sie, dass Ihr Mann einen Drohbrief bekommen hat?«
»Einen Drohbrief?«, fragte Karin Schattler verwundert.
»Nein, wo kommt der denn her?«
»Das weiß ich nicht. Der Briefumschlag ist nicht abgestempelt. Das spricht dafür, dass er nicht mit der Post gekommen ist, sondern Ihrem Mann anders übermittelt wurde.
Es kann natürlich auch sein, dass Ihr Mann den Brief in diesen Umschlag getan und den anderen weggeworfen hat. Ich hatte gehofft…«
»Nein«, fiel sie ihm hastig ins Wort. »Ich weiß nichts davon, überhaupt nichts.« Sie griff zum Cognacglas. Ihre Hand zitterte dabei so stark, dass sie die andere zu Hilfe nehmen musste, um den Schwenker halbwegs sicher zum Mund zu führen.
»Er hat also nicht mit Ihnen darüber gesprochen?«
»Nein, kein Wort.« Sie schlug wieder beide Hände vor ihr Gesicht. »Herr Kommissar«, bat sie mit gepresster Stimme,
»wäre es möglich, dass Sie später…«
»Natürlich. Nur, Frau Schattler, eins kann ich Ihnen leider nicht ersparen: Sie müssen Ihren Mann noch identifizieren.«
»Ich verstehe. Und wann?«
»Wenn es Ihnen möglich ist, noch heute. Spätestens morgen.
Ich würde Ihnen einen Wagen vorbeischicken, der Sie…«
»Ist gut. Ich denke, um fünf geht es.«
»Vielen Dank. Nein, bleiben Sie sitzen, ich finde selbst hinaus«, sagte Brischinsky, als Karin Schattler Anstalten machte, ihn zur Haustür zu begleiten. »Und noch einmal mein herzliches Beileid.«
8
Der Kiosk befand sich in einem mehrgeschossigen Wohnhaus und sah so aus, wie Esch sich einen Kiosk in der Mont-Cenis-Straße in Herne vorgestellt hatte. Genau genommen hatte er sich überhaupt keinen bestimmten Kiosk vorgestellt, sondern eben nur irgendeinen Kiosk.
Bedient wurde durch ein kleines Glasfenster in Brusthöhe des Kunden, der durch die Scheiben die Titelblätter von zahlreichen Zeitschriften, Glasbehälter mit Süßigkeiten aller Art, Regale mit übereinander gestapelten Zigarettenpäckchen und anderen lebensnotwendigen Dingen erkennen konnte.
Häufig verkaufte Artikel wie die Bildzeitung und die Westdeutsche Allgemeine Zeitung lagen in Griffnähe des Verkaufsfensters, die seltener verlangten oder sperrigen Güter wie Bier-, Cola-und Wasserflaschen standen etwas weiter weg.
Vor der Scheibe war ein etwa zwanzig Zentimeter breites Abstellbrett befestigt, auf dem die gefüllten Tüten und Körbe der Kunden bis zum Bezahlen zwischengelagert werden konnten. Eine einfache Haushaltsklingel ermöglichte es, das Verkaufspersonal davon zu unterrichten, dass vor der Scheibe Kundschaft wartete. Links und rechts des Verkaufsbereichs warben dreibeinige Schilder vornehmlich für Fernsehzeitschriften.
Ein Hinweisschild untersagte das Verzehren alkoholischer Getränke in einem Umkreis von zehn Metern. In etwa zwei Meter Höhe hing schlaff eine Werbefahne für Speiseeis und die Papierkörbe dienten als Reklamefläche für Zigarettenmarken.
Esch wartete, bis ein junger Mann seine Einkäufe erledigt hatte. Dann trat er an die Scheibe und begrüßte Karin Schattler.
»Ach, Herr Esch. Kommen Sie doch herein.« Die junge Frau ergänzte, als sie seinen fragenden Gesichtsausdruck registrierte: »Durch die nächste Haustür da vorne links. Ich drücke Ihnen auf. Im Flur dann rechts.«
Esch ging in die angewiesene Richtung und wartete, bis Momente später der Türöffner summte. Er drückte die Haustür auf und betrat den Flur. Nach wenigen Metern
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