Zwielicht
die Augen. »Wie ist das möglich? Sie bedienen Raumschiffe, verwenden Waffen.«
»Richtig«, stimmte sie zu. »Das heißt jedoch nicht, dass ich die Algorithmen dahinter kenne.«
»Aber …« Zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, schienen ihm die Worte zu fehlen.
»Ich lernte durch die Praxis«, fuhr sie fort. »Je mehr Erfahrung ich sammelte, desto leichter fiel es mir, neue Fähigkeiten zu entwickeln und alte zu verfeinern. Was die mathematischen Grundlagen hinter dem Flug eines Runabouts oder dem Schießen mit Phasern anbelangt … Ich schätze, die Technik gleicht meine Wissenslücken aus.«
»Und wenn Ihnen die Technik fehlen würde?«, hakte er nach.
»Wenn Ihr Überleben hiervon abhinge?« Er deutete auf die roten Symbole und blauen Linien, und seine Hand glitt durch die holografische Darstellung einer Gleichung und der – wie Kira annahm – dazugehörigen Kurve.
»Wenn ich mein Überleben auf meine Mathekenntnisse setzen müsste«, antwortete sie lächelnd, »würde ich vermutlich sterben.«
Taran’atar schwieg. »Na, vielleicht nicht sterben«, schränkte sie ein,
»aber ich müsste intuitiv handeln, nicht berechnend. Wie während Ihrer Rintanna-Simulation.«
» Das verstehen Sie nicht?«, fragte er und sah zu seinen Aufgaben.
Seit seiner Ankunft auf der Station hatte Kira ihn schon oft verwirrt gesehen, sein aktueller Gesichtsausdruck übertraf jedoch alles.
Sie widmete sich den Formeln und Kurvendiskussionen, und fühl-te sich daran erinnert, wie ihr Vater und ihr Bruder Pohl sie einst unterrichteten. Der Geruch der Schriftrollen, auf denen sie ihre Übungen gemacht hatte, stieg ihr erneut in die Nase, und fast glaubte sie, Pohls frustrierten Tonfall zu hören, in dem er ihr wieder und wieder dieselben Zusammenhänge zu erklären versucht hatte. Fand sich in dem Wust aus Angaben etwas, das ihr bekannt vorkam? Kira trat um Taran’atar herum und deutete auf zwei Gleichungen. »Dies ist eine Ableitung von dem«, sagte sie und deutete zuerst zur unteren, dann zur oberen der beiden. Dann fand sie die zweidimensiona-le Kurve, die dazu passte. Vermutlich handelte es sich um die sim-pelste Berechnung von allen.
Zu ihrer Überraschung nickte der Jem’Hadar. »Richtig.«
Kira suchte nach weiteren Zeilen, die sie verstand, fand aber nichts. »Hier sind weitere Ableitungssymbole«, sagte sie und wischte mit der Hand durch einige Angaben. Die roten Ziffern wirkten wie Tätowierungen auf ihrer Haut. »Aber ich kann sie nicht nachvollziehen.«
»Es handelt sich um partielle Differenzialgleichungen«, erklärte er.
Plötzlich begriff sie, dass er der bajoranischen Schrift mächtig sein musste. Die Jem’Hadar waren wirklich bemerkenswerte Kreaturen –
Wesen , verbesserte sie sich, Personen. Wie sie sich wohl ohne das Gebot der Gründer, Soldaten zu sein, entwickelt hätten? Vor über fünf Jahren war ein Säugling dieser Spezies auf die Station gelangt. Odo hatte damals geglaubt, den binnen weniger Tage voll ausgewachse-nen Jem’Hadar von seiner genetisch veranlagten Neigung zur Gewalt abbringen zu können, doch Kira hatte daran gezweifelt und letztlich recht behalten. Nun schien es ihr, als stünde sie erneut Odos Argumenten gegenüber – und diesmal neigte sie zu seiner Sicht der Dinge.
»Partielle Differenzialgleichungen«, wiederholte sie. »Ich schätze, da werde ich Ihnen vertrauen müssen.«
»Für jemanden mit derart eklatanten Beschränkungen verfügen Sie über beeindruckendes Kampftalent.«
»War das jetzt eine Beleidigung oder ein Kompliment?«, fragte Kira überrascht und amüsiert.
»Schlicht eine Tatsache.«
»In Ordnung«, sagte sie. »Also: Was genau machen Sie hier?« Sie hatte so ein Gefühl, als kenne sie die Antwort bereits.
»Ich trainiere.«
»Selbstverständlich. Nichts anderes habe ich erwartet. Ich ging nur davon aus, Sie im Kampf gegen ein mächtiges, todbringendes Ungetüm aufzufinden.«
»Auch der Geist muss regelmäßig trainiert werden«, erwiderte er.
»Sonst können weder er noch der Körper lange überleben.«
»Das ist wahr«, stimmte sie zu. Das erinnerte sie an die mentale und emotionale Disziplin, die für den Kampf gegen die Cardassianer nötig gewesen war. Hatte Taran’atar ihr nicht selbst gesagt, dass er Programme zum Gehirntraining besaß? Vermutlich hatte sie schlicht nicht erwartet, dass es sich dabei auch um Mathematik-
übungen handelte.
Mit einem Mal kam ihr der eigentliche Grund ihres Besuchs wieder in den Sinn. »Ich würde mit Ihnen
Weitere Kostenlose Bücher