Zwielicht
später tat er es ohnehin. Ben hatte diesen Ort geliebt und sich darauf gefreut, den Wechsel der Jahreszeiten zu sehen. Doch nun lebte sie hier, und wann immer sie die Augen schloss, wünschte sie sich, er stünde vor ihr, wenn sie sie öffnete. Eines Tages würde es so sein. Eines Tages würde sie aufblicken, um die Ecke des Hauses kommen oder einen der Moba -Bäume passieren, und auf einmal wäre er da – ein breites Lächeln im Gesicht und den Blick voller Liebe. Daran glaubte sie. Ben würde zu ihr kommen, und dieses Land, dieses Haus würde wirklich ihres werden.
Als sie die Augen öffnete, war er nicht da. Das war hart, aber irgendwie auch in Ordnung, zumindest für den Moment. Sie wusste, dass eine Zeit kommen mochte, in der sie sich nicht länger an ihre Hoffnung und diesen letzten, winzigen gemeinsamen Augenblick mit ihm klammern konnte – einen, den sie sich ohnehin vielleicht nur eingebildet hatte –, denn Ben war seit knapp einem halben Jahr fort. Sie würde weiter warten. Selbst inmitten der Mutlosigkeit und der Leere glaubte sie daran, mit ihm gesprochen zu haben – in der Sphäre, in die er sich begeben hatte – und dass das, was er ihr damals sagte, eintreffen würde. Das, was er versprochen hatte.
In all der Zeit, die sie an seiner Seite war, hatte Kasidy die bajoranische Religion nie ganz verstanden. Nicht auf emotionaler Ebene.
Vermutlich verhinderte ihre Abneigung gegenüber derartigen Kon-strukten eine tiefergehende Verbindung. Streng definierte theologische Überzeugungen ließen keinen Raum für abweichende Ansichten, da selbst der Gedanke an Alternativen dem Glauben entgegen-lief. Kasidy fragte sich allerdings immer öfter, ob sie diese Meinung überdenken sollte – und konnte.
Sie hatte nie begriffen, wie Ben getan hatte, was er tat. Er war kein passiver Typ, und doch ließ er es zu, nach und nach zur Ikone einer fremden Religion zu werden. Sie wusste von seiner tiefen Zuneigung zum bajoranischen Volk, mit dessen »Göttern« er tatsächlich gesprochen hatte, konnte sich aber nicht vorstellen, was es hieß, eine solche Verantwortung zu übernehmen. Das war einer ihrer Vorbehalte gegenüber Bajor: Aufgrund ihrer Beziehung zu Ben wurde selbst sie hier zu einer Art religiösen Figur.
Ein dumpfes Geräusch riss Kasidy aus ihren Überlegungen. Sie drehte sich um, lauschte erneut, hörte jedoch nur das nahezu melo-dische Plätschern des Baches, der durch ihr Grundstück führte. In der Ferne tauchte die Sonne die Kendra-Berge in Gold und schickte ihre Strahlen auf den sich windenden Yolja-Fluss. Weiter nördlich jedoch drängten Gewitterwolken ins Tal und verdunkelten das Land. Ein gezackter Blitz raste vom Himmel zum Boden, kurz vor dem Dorf Adarak, und abermals drohte der Donner aus der Ferne.
Es dauerte nur Minuten, und der Wind nahm zu. Er blies durch die skelettgleichen Moba -Bäume und brachte den elektrischen Geruch des bevorstehenden Sturmes mit sich. Kasidy wickelte sich fester in ihren Schal. Bald würde sie hineingehen müssen. Ist auch besser so , dachte sie. Dann kann ich den Brief an Joseph beenden.
Eine Bewegung jenseits der Bäume weckte ihre Aufmerksamkeit.
Auf der ungepflasterten Straße, die vom Dorf in ihre Richtung führ-te, kam ihr eine einsame Gestalt entgegen. Der Gedanke an Ben ließ Kasidy fast das Herz zerspringen, dann aber tadelte sie sich für ihre Torheit. Sie konnte zwar nicht erkennen, um wen es sich handelte, doch die Figur des Fremden machte deutlich, dass es nicht ihr Mann war.
Oder Jake. Die Trauer schüttelte sie wie der kalte Wind. Wochen –
nein, Monate – waren vergangen, seit jemand ihn gesehen hatte. Kas vermisste ihn sehr. Sie kannte Jake länger, als sie Ben kannte und schon bei ihrer ersten Begegnung mit ihm war eine Freundschaft zwischen ihnen entstanden. Nach Bens Verschwinden hatte sie Trost darin gefunden, ihre Trauer mit ihm zu teilen und seinen Vater in ihm zu sehen. Als sie von Jakes unerklärlicher Abwesenheit gehört hatte, war sie durch ihren Kummer an den Rand der Verzweiflung getrieben worden; einzig dank des Lebens, das in ihr wuchs, war sie zurückgekehrt und konnte nach vorne blicken.
Kasidy erhob sich von dem Schaukelstuhl und ging zur anderen Seite der Veranda, der Person entgegen. Wer mag das sein? , fragte sie sich. Nach ihrem Umzug nach Bajor waren Unmengen von Besuchern gekommen, Ortsansässige und andere von überall auf dem Planeten, um der Gattin des Abgesandten in jeder erdenklichen Weise zur Hand zu gehen.
Weitere Kostenlose Bücher