Zwielichtlande: Schattenmann (German Edition)
Sterblicher es entdeckte und öffnete? Also musste er warten, während die seidigen dunklen Bahnen durch Licht und Schatten des Feuerscheins zu ihm glitten und ihn mit Kraft versorgten.
Das Knistern des Feuers hallte durch das leere Lagerhaus. Von dem Fluss jenseits der Hafenanlagen ertönte das traurige Tuten eines Schiffes, und auf der Straße vernahm er die Schritte dreier Personen. Ihre überlappenden Herzschläge verbanden sich zu einem trommelähnlichen Rhythmus des Lebens. Das Öffne mich! des Tores verwandelte sich in seinem Kopf in ein heimtückisches Flüstern.
Ja, heimtückisch und gefährlich. In der Hölle wimmelte es von Teufeln, verkommenen Seelen jener, die Leben, Liebe und Hoffnung für das Böse, die Vernichtung und den Schmerz aufgegeben hatten. Da sie sich gegenseitig quälten, sobald sie von der Sterblichen Welt ins Jenseits übertraten, litten sie bis in alle Ewigkeit.
Bald, Kathleen. Bald werde ich dich erlösen.
Als sich die Herzschläge dem Lagerhaus näherten, beschleunigte sich ihr Rhythmus. Menschliche Angst beherrschte zunehmend die Atmosphäre. Rasch wandelte sich die Furcht in Panik.
Der Schattenmann wandte seine Aufmerksamkeit von dem Tor ab und konzentrierte sich auf den Bereich vor dem Lagerhaus. Dort auf der Straße verfolgten zwei dunkelhäutige Schlägertypen eine junge Frau. Die Lust der Männer stank wie fauliges Obst. Wie Dornen hatte die Frau ihre Schlüssel durch die Finger ihrer geballten Faust geschoben. Ihre heftige Angst durchdrang die gesamte Umgebung.
Öffne mich! , rief das Tor in seinem Kopf. Der Tod beachtete es nicht. Stattdessen beobachtete er die Frau.
Warum spazierte sie hier herum und setzte sich einer derartigen Gefahr aus? Diese Straße befand sich mitten in dem gefährlichen Industriegelände des Hafens.
Abgestumpft von unzähligen Erlebnissen sah er zu, wie sie ihren Schritt beschleunigte. Der Tod spürte die glühenden Lebensfäden, die sie ihrem endgültigen Schicksal entgegenzogen. Sie bildeten eine seltsame Landkarte, auf der subtile Kräfte sie durch ein leichtes Ziehen diesen oder jenen Weg entlangführten. Sie bestimmten, dass ihr Leben an diesem Punkt, in diesem Augenblick endete.
Wieso hier? Wieso jetzt? Unwichtig.
Über der finsteren Straße erschien ein schillernder Schatten, den nur er sah. Ein glitzernder Ärmel, golden glänzendes Feenhaar, ein funkelndes Auge. Moira. Das Schicksal lächelte ihn mädchenhaft an. Moira besaß drei Gesichter, doch sie bevorzugte das jüngste. Mit ihren scharfen Scheren beugte sie sich über die Lebenslinie der Frau. Der Tod registrierte das Aufblitzen der silbernen Klingen, sie durchtrennte die Lebenslinie und schnitt den Faden aus dem Gewebe der Welt.
So erging es jedem.
Offenbar hatte die Frau es gespürt. Sie wandte den Blick zum Himmel – zweifellos betete sie – und rang um Atem. Moira hatte die Welt bereits wieder verlassen, ihre Arbeit war getan. Die Frau hatte eine höhere Macht um Hilfe angefleht. Ihr Blick glitt von Gott über ihre Schulter zurück, und als sie dort dem gierigen Blick ihrer Verfolger begegnete, riss sie erschrocken den Mund auf.
Würde sie stolpern und hinfallen wie so viele andere im Laufe der Jahrhunderte vor ihr?
Nein. Die Frau begann zu rennen. Es war eine hoffnungslose Flucht.
Der Tod staunte, wie die Frau sich zusammenriss und ihre Angst überwand. Dass eine Seele so kurz vor dem Tod derart hell leuchtete, weckte seine Neugierde.
Genau wie bei Kathleen. Hell und stark genug, um die Schatten zu durchdringen.
Doch genau wie Kathleen würde auch diese Frau sterben. Daran führte kein Weg vorbei, denn Moira hatte ihren Lebensfaden unwiederbringlich durchtrennt.
Einer der Männer, dessen Seele vergleichsweise finster wirkte, griff nach ihrer Jacke.
Die Frau fuhr herum und donnerte ihm ihre Faust mit den Stacheln ins Gesicht.
Gutes Mädchen . Wehr dich gegen dein Schicksal. Gleite ehrenhaft hinüber.
Der Mann wich zurück und betastete mit einer Hand seine blutige Wange, mit der anderen umklammerte er weiter ihren Ärmel. In die Geilheit des Mannes mischte sich Mordlust. Wie klebriger Teer legte sie sich auf seine Seele.
Als sie sich von ihrer Jacke befreite, griff der erste Mann ihre wehenden Haare und riss sie zurück. Sie hob erneut die Faust mit den Stacheln und verlagerte ihr Gewicht. Er packte ihr Handgelenk, doch sie rammte ihm brutal das Knie in die Lenden. Der Tod grinste anerkennend.
Noch vier Schritte, dann versetzte der andere Mann ihr einen Schlag
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