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Zwienacht (German Edition)

Zwienacht (German Edition)

Titel: Zwienacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raimon Weber
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sich im Innern einer Glocke.
    Das Wohnzimmer in seinem Rücken war durch die Straßenlaterne vor dem Haus von einer Bahn schwach weißen Lichts erhellt. Ein konzentrierter Strahl, der zu beiden Seiten von Schwärze umgeben war. Der Flur hatte sich in einen Schlund verwandelt. Richards Finger fanden den Lichtschalter.
    Kein Licht.
    Wenn auch die Lampe im Flur nicht funktionierte, konnte es sich nur um einen Stromausfall in der Wohnung handeln. Vielleicht sogar im ganzen Haus. Irgendwo in seiner Wohnung schabte etwas über das Parkett.
    Richard fühlte wie etwas Warmes über seine rechte Wange rann. Er streckte die Hand danach aus und fühlte eine Flüssigkeit. Blut. Der Zusammenstoß mit dem Türrahmen musste weitaus heftiger ausgefallen sein, als der ausgebliebene Schmerz es vermuten ließ. Aber viel schlimmer als das Blut, das sich jetzt in seinem Hemdkragen sammelte, waren die Geräusche in den Tiefen der Wohnung.
    Ein Trippeln. Erst eilig, dann langsam ... verhalten. Jetzt näher. Zum Greifen nahe.
    Richard starrte in den Flur und konnte noch nicht einmal die Umrisse der Möbel erahnen. Er wich einen Schritt von der Tür zurück und blieb mit pochendem Herzen stehen.
    Richard war wieder acht Jahre alt. Die Furcht fiel wie eine Sturmflut über ihn her. Spülte das Erwachsensein mit dem mühsam gewonnenen Selbstbewusstsein einfach fort. Tränen schossen ihm in die Augen. Seine Gedanken glichen Insekten, winzigen, flinken Insekten, die aus seinem Griff schlüpften, sobald er sie zu fassen kam.
    Das Licht ging an. Der Schein blendete ihn und ließ grelle Flecken vor seinen Augen erscheinen. Dann entdeckte er, was vor ihm, kaum eine Armlänge entfernt, auf dem Boden hockte.
    Sie war riesig.
    Richard schrie gellend auf.
    Das fettig glänzende Fell, die bösartig starrenden Knopfaugen, der gedunsene, mit Aas vollgefressene Leib mit dem langen, rosa nackten Schwanz.
    Richards Schrei schien kein Ende nehmen zu wollen. Aus weit aufgerissenen Augen sah er, wie die Ratte in die Küche flüchtete. Richard strauchelte nach vorn, schwindlig von dem furchtbaren Anblick. Die Ratte bog um die Ecke und er konnte sie nicht mehr sehen. Aber er hörte ihre Krallen, die auf dem glatten Küchenboden kaum Halt fanden und abrutschten. Und dann ging das Kratzen und Scharren im Schlafzimmer von neuem los.
    Nicht tot!, schrie es in seinem Inneren. Sie sind nicht tot. Es werden immer mehr! Und sie sind hier! Sie haben es geschafft!
    Richard hob in einer verzweifelten Geste der Abwehr beide Hände und taumelte auf die Wohnungstür zu. Er konnte deutlich das Adergeflecht unter der dünnen Haut sehen. Die feinen Linien erinnerten an die Aufnahme eines verzweigten Flussdeltas aus großer Höhe. Jede einzelne Ader pulsierte in einem durchdringenden Violett.
    Richard griff nach der Türklinke und hatte Angst, dass seine Hand unter dem Druck wie eine überreife Frucht zerplatzten könnte. Das Kratzen in der Wand schwoll zu einem infernalischen Lärm an. Ein Krach, der das alte Haus in den Grundfesten erschüttern musste.
    Richard stürmte ins Treppenhaus und rannte die Treppe hinab. Ihm war nicht bewusst, dass er dabei schluchzte und unzusammenhängende Worte ausstieß. Auf den letzten Stufen stolperte er und landete auf den harten Fliesen unmittelbar vor der Haustür. Auf allen Vieren kroch er auf die Straße und als er zum Himmel empor blickte, hatte der sich in drohendes Schwarz verwandelt. Darin waren Bewegungen auszumachen. Das Flattern gigantischer Schwingen, umherwirbelnde Punkte. Einige violett wie die Adern unter seiner Haut, andere rot wie glühende Kohlen. Mit einem Rauschen, das klang, als wären alle Schleusen eines Stausees geöffnet worden, raste das verwandelte Firmament auf ihn zu.

Der Reisende 5

    Ichstand nackt in der Mitte des Raumes und atmete hektisch und flach. Ich fühlte mich wie ein waidwundes Tier.
    „Wer spricht?“
    Die Stimmen in den Wänden wisperten und raunten. Manche klangen zufrieden, ja lobend, andere hingegen ungeduldig. Sie forderten mich auf schneller, effektiver zu arbeiten. Warfen mir jetzt sogar Eitelkeit vor.
    „Eitelkeit?“, fragte ich nach und erinnerte mich im selben Moment. Ja, da war die Landkarte an der Wand. Deutschland im Maßstab 1 : 500 000. Es hatte mir Spaß bereitet, die Orte meiner gelungenen Impfungen mit Nadeln zu markieren.
    Die Vorwürfe waren berechtigt. Nicht nur, dass damit angemessene Sachlichkeit purer Eitelkeit gewichen war, verstieß ich auch gegen das oberste Gebot: Hinterlasse

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