Zwillingsbrut
bestand tatsächlich kein Zusammenhang und ihre Verschwörungstheorien verliefen im Sande, doch ganz sicher war hier irgendetwas faul … ganz und gar faul.
»Du musst dir mal den Mitschnitt von dem Neun-eins-eins-Anruf anhören«, sagte Alvarez, als sie zusammen mit Pescoli den Aufenthaltsraum betrat, der mittlerweile vom Fußboden bis zur Decke »joellig« ausstaffiert war. Funkelnde Lichter, künstliche Kiefernkränze und -girlanden, geschmückt mit goldenen Kugeln und roten Bändern, hingen überall im Raum. Silberne Schneeflocken baumelten von der Deckenbeleuchtung herab wie Köder an vergessenen Angeln.
»Um Himmels willen, ist das denn erlaubt in einem öffentlichen Gebäude?«, schimpfte Pescoli, als sie bemerkte, dass selbst die Kaffeekanne am Plastikhenkel mit einer roten Schleife verziert war. »Das ist einfach zu viel.«
Alvarez entfernte die Schleife und schenkte Kaffee in eine Tasse, die sie vom Regal genommen hatte. Sie nahm einen großen Schluck, dann brachte sie das Gespräch wieder auf den Unfall in der Nähe der North Fork Bridge. »Tom Alexander ist davon überzeugt, dass seine Frau vorsätzlich von der Straße gedrängt wurde. Behauptet, er habe mit ihr telefoniert, als jemand auf ihren Minivan auffuhr.«
»Im Ernst?« Pescoli fischte ihre Lieblingstasse mit dem Sprung vom Regal. »Dann behauptet er also
was?
Dass er gehört hat, wie sie gestorben ist?«
»So was in der Art.«
»Ach du lieber Gott. Kannst du dir das vorstellen?«
»Nein«, sagte Alvarez finster. »Es ist jetzt unser Fall. Mord.«
»
Eventuell.
Menschenskind!«
Noch bevor sie den Fall weiter erörtern konnten, vernahmen sie Schritte, und Joelle, von Kopf bis Fuß in weihnachtliches Rot gekleidet, erschien, die blonden Haare mit passenden Weihnachtsstern-Clipsen geschmückt. »Frohe Feiertage!«, begrüßte sie die beiden Detectives. Sie trug drei rosa Schachteln herein und stellte sie auf dem Tisch ab.
Pescoli bemerkte, dass dieselben roten Blumen, die in Joelles Locken steckten, ihre blutroten Zehn-Zentimeter-High-Heels zierten.
»Ich hoffe, ihr habt noch nicht zu viel Süßes gegessen!«, zwitscherte sie.
»Von Süßigkeiten bekomme ich nie genug«, versicherte Pescoli.
Joelle nahm einen kleinen künstlichen Tannenbaum mit Miniaturgeschenken darunter vom Tisch und drückte auf einen Knopf. Der Baum fing an, sich zu drehen, seine bunten Lichter blinkten. Freudestrahlend stellte sie ihn auf seinen Platz zurück und fing an zu erzählen: »Die Kinder meiner Cousine Beth hatten sich mit dieser scheußlichen Grippe angesteckt, so dass sie nicht zum Thanksgiving-Dinner erscheinen konnten. Onkel Bud und seine Frau – die beiden sind schon über achtzig – waren eingeschneit und konnten daher ebenfalls nicht kommen. Meine Schwester Jennifer macht mal wieder eine ihrer verrückten Diäten, isst nur Obst und Honig, also bin ich auf den ganzen Köstlichkeiten sitzengeblieben.« Sie öffnete die Schachteln, und zum Vorschein kamen eine Kürbis-Pie, eine Beerentorte und eine Plastikschüssel voller mit Zuckerguss verzierter Plätzchen: Füllhörner, Truthähne und Pilgerhüte. Pescoli war sich nicht sicher, aber mindestens eins sah aus wie ein Osterhase, der vor über sechs Monaten versehentlich aus dem Gefrierschrank gehüpft war.
Als Joelle sich vorbeugte, konnte Pescoli einen Blick auf ihre goldenen Creolen werfen. Mein Gott, in jedem der Achtzehn-Karat-Reifen saß doch tatsächlich ein winziger Weihnachtswichtel!
Die Dezernatsrezeptionistin verteilte rasch die Plätzchen auf einem Teller, dann hörte sie das Telefon schrillen, erstarrte und schürzte die Lippen. »Die Pflicht ruft«, sagte sie achselzuckend, dann klackerte sie eilig aus dem Aufenthaltsraum. Zwei Streifenbeamte kamen herein.
»Das ist vielleicht eine«, murmelte Pescoli, aber Alvarez hörte nicht zu, also nahm sie sich einen Pilgerhut und biss die Spitze ab.
Alvarez, tief in Gedanken, ignorierte all die Leckereien und sagte zu Pescoli, die sich nun ebenfalls einen Kaffee einschenkte: »Der Minivan der Alexanders steht schon in der Werkstatt des kriminaltechnischen Labors. Ich glaube, ich sollte dort mal vorbeischauen.«
»Ich komme mit.« Merkwürdig, dachte Pescoli. Vermutlich war der Ehemann außer sich, halb verrückt vor Kummer und versuchte, irgendjemand anderen für den Unfall seiner Frau auf der vereisten Straße verantwortlich zu machen. Vielleicht war das Ganze aber auch nur ein Bluff und er wusste mehr, als er zugab; vielleicht
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