Zwillingsbrut
Treppe hinaufeilte. Je größer das Desinteresse, desto besser. Das hatte sich bei Shelly Bonaventure gezeigt: Nach ihrem Tod hatte ihr die Presse höllisch viel Aufmerksamkeit geschenkt, weit mehr als zu Lebzeiten. Und trotzdem genoss er die Beiträge zum Tod seiner Opfer, liebte die Zusammenfassungen der vermeintlichen »Unfallhergänge« und die Verwirrung auf dem Gesicht der ermittelnden Beamten, verspürte Stolz, weil es ihm wieder einmal gelungen war, die Behörden zu überlisten, während er auf sein ultimatives Ziel hinarbeitete.
Doch er musste vorsichtig sein. Immer. Die Zeit war der wichtigste Faktor.
Wieder hatte er das Gefühl, jemand würde ihn beobachten, ein Jemand, der ihm direkt ins Gehirn zu blicken schien, aber das war verrückt. Irrsinnig. Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf seine Mitte.
Reiß dich zusammen! Du darfst nicht deiner Paranoia anheimfallen! Es ist nichts. Gar nichts!
Endlich beruhigte sich sein Puls wieder.
Er warf einen Blick auf die Uhr, stellte fest, dass es zu spät für seinen Lauschangriff auf Acacia war – diejenige »Unwissende«, die ihm am meisten zu schaffen machte. Schon wenn er an sie dachte, fing seine Haut auf eine Art und Weise zu kribbeln an, die ihn verunsicherte – erotisch, begehrend.
Zu riskant,
ermahnte er sich. Sie war vor langer, langer Zeit der Grund dafür gewesen, dass er von den Frauen erfahren hatte. Durch ihre Existenz hatte sie ihn unwissentlich auf all die anderen aufmerksam gemacht und damit deren Schicksal besiegelt.
Vielleicht sollte er sich bei ihr bedanken.
Beinahe hätte er laut aufgelacht. Er wünschte sich, er könnte sie über die versteckten Mikrophone belauschen und von ihr träumen, doch das war sinnlos. Sie wäre längst aus dem Haus und in der Poliklinik.
Er lächelte.
Vielleicht sollte er sich einen Termin bei ihr geben lassen.
Bald.
Sein Lächeln wurde breiter, und er spürte, wie sich sein Schwanz regte.
Sehr, sehr bald.
»Dann hat sie eben eine vage Ähnlichkeit mit den anderen. Na und?«, fragte Pescoli zwei Stunden später, als sie zusammen mit Alvarez zur Werkstatt des kriminaltechnischen Labors fuhr. Heute hatte sie wirklich den Eindruck, ihre Partnerin würde sich an Strohhalme klammern. Jetzt behauptete sie auch noch, Elle Alexander sehe aus wie Shelly Bonaventure und Jocelyn Wallis. Das war nun sehr weit hergeholt, fand sie.
Doch in einem hatte sie Alvarez recht geben müssen: Die Aufnahme des panischen Notrufs von Tom Alexander klang echt, er schien außer sich zu sein vor Sorge – ein Eindruck, der sich bestätigt hatte, als er heute früh auf dem Department aufgekreuzt war. Aufgebracht war er ins Büro des Sheriffs gestürmt und hatte eine Untersuchung verlangt, um die Umstände des Unfalls seiner Frau aufzuklären. Doch sein Zorn war verflogen, nachdem er sich mit Pescoli unterhalten hatte.
Gutaussehend und gepflegt, war er der Inbegriff des schmerzerfüllten Ehemanns gewesen, der noch unter Schock stand.
»Sie war eine gute Autofahrerin und an schlechte Wetterverhältnisse gewöhnt. Ich sage Ihnen, sie konnte mühelos die verschneitesten Straßen bewältigen! Außerdem habe ich alles mit angehört. Ich habe mit ihr telefoniert, als er ihr draufgefahren ist. Sie war halb verrückt vor Angst und hat offenbar das Handy fallen lassen, denn sie hat mir nicht mehr geantwortet. Anschließend knirschte Metall auf Metall, und zwar ohrenbetäubend! Elle hat gekreischt und geschrien und immer wieder meinen Namen gerufen, aber mich konnte sie wohl nicht mehr hören!« Er sackte auf einen der Stühle vor ihrem Schreibtisch, vergrub das Gesicht in den Händen, seine Schultern bebten. »Dann hat sie wieder geschrien, und ich habe das Tosen von Wasser gehört … O Gott, es war … und dann … dann … nichts mehr. Die Leitung war tot. Um Himmels willen, was soll ich jetzt bloß machen? Elle … oh, Elle.«
Pescoli hatte es nicht über sich gebracht, ihn mit irgendwelchen Plattitüden abzuspeisen. Damals, in der Nacht, in der ihr erster Ehemann, Joe, erschossen worden war, war es ihr genauso ergangen wie jetzt ihm.
Dass Joe in Ausübung seiner Dienstpflicht gestorben war, hatte ihr auch nicht weitergeholfen. Und ihr war völlig egal gewesen, dass die anderen ihn für einen Helden hielten.
Alles, was für sie zählte, war, dass er tot war und sie mit einem kleinen Sohn und einem Loch im Herzen zurückließ, das groß genug war, um einen Panzer hindurchrollen zu lassen. Nie wieder würde sie mit
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