Zwillingsbrut
beteiligten Fahrers.
Was hatte Grace gesagt? Der Fahrer sei »böse«, er meine es »nicht gut« mit ihr.
Das ist doch lächerlich. Fall bloß nicht darauf rein!
Er war ein ganz normaler Mann, der es eilig hatte und zufällig in den Unfall verwickelt wurde. Dennoch wurde sie das Gefühl nicht los, dass sie ihn schon einmal gesehen hatte. Sie fröstelte. »Jetzt bildest du dir etwas ein.« Sie sperrte die Hintertür auf, trat ein und schloss gründlich hinter sich ab.
Als sie das Licht anknipste, hatte sie plötzlich das unheimliche Gefühl, dass jemand hier gewesen war. Aber das war lächerlich.
Trotzdem sah sie in jedes Zimmer, bevor sie Schal und Mantel ablegte und beides an den Garderobenständer bei der Eingangstür hängte.
Kein maskierter, messerschwingender Schwarzer Mann, der ihr auflauerte. Kein düsterer Schatten, der ihren Weg kreuzte. Auch kein glühendes Augenpaar, das hinter den Vorhängen jede ihrer Bewegungen verfolgte.
Leise vor sich hin brummelnd, huschte sie die Treppe hinauf, doch einige Stufen vor dem oberen Absatz blieb sie abrupt stehen. Sie meinte, einen außergewöhnlichen Geruch in der kleinen Mauernische wahrzunehmen, in der ein Porträt ihrer Großeltern vor der verblassten Tapete hing. Das blasse Rosenmuster hatte Grannie sehr gemocht, und Kacey hatte sich zwar geschworen, die Tapete zu ersetzen, aber bisher weder die Zeit noch das Herz gehabt, sie von den Wänden zu reißen.
Sie drückte ihren Zeigefinger an die Lippen, dann strich sie damit über die lächelnden Gesichter ihrer Großeltern und fragte sich, was sie über die Frauen wussten, die ihr so ähnlich sahen. Jocelyn Wallis und Shelly Bonaventure, ihre Doppelgängerinnen.
Die drittletzte Treppenstufe knarrte, wie immer, und Kacey lächelte, als sie daran dachte, wie sie sie als Kind immer übersprungen hatte in der festen Überzeugung, sie würde ihr Unglück bringen. Später hatte sie sie meiden müssen, um nicht ihren schnarchenden Großvater aufzuwecken oder ihre Großmutter, die einen leichten Schlaf hatte, wenn sie sich in jenen wundervollen warmen Sommernächten aus dem Haus geschlichen hatte, in denen sie mit ihrem Pferd ohne Sattel über die mondbeschienenen Felder geritten war, den Geruch von frisch geschnittenem Gras und aufwirbelndem Staub in der Nase.
Jene Sommer in Montana schienen eine Ewigkeit her zu sein, Teil einer Kindheit, der nichts zu tun hatte mit der Frau, zu der sie geworden war – die ehrgeizige Medizinstudentin, die von einem Irren überfallen worden war. Fast hätte sie deswegen ihre Karriere aufgegeben, noch bevor sie recht begonnen hatte.
Wem machte sie eigentlich etwas vor?
Seitdem dieser Psychopath ihr in dem Parkhaus aufgelauert hatte, war sie nicht mehr dieselbe. Verschwunden war jede Spur von dem Mädchen, das einst um Mitternacht mit seinem Pferd über die Felder galoppiert war, das sich an einem Seil über den Fluss geschwungen und ins Wasser hatte fallen lassen oder furchtlos durch die umliegenden Hügel gewandert war … Nein, irgendwo zwischen der permanenten Kritik ihrer Mutter und dem grauenvollen Überfall war Kaceys Selbstbewusstsein auf der Strecke geblieben.
Mit den Jahren hatte sie etwas davon zurückgewonnen, konnte sogar besser mit der Scheidung umgehen, als sie gedacht hatte, und dennoch: Tief in ihrem Innern verbarg sich eine zutiefst verängstigte Frau, die gerade in diesem Augenblick aus der Versenkung auftauchte.
Du darfst das nicht zulassen. Lass nicht zu, dass dich irgendeine Spinnerin aus der Bahn wirft. Grace Perchant glaubt, sie kann mit Geistern reden, das muss man sich mal vorstellen!,
rief sie sich zur Ordnung und betrat den Raum, den sie stets gemieden hatte: das Schlafzimmer ihrer Großeltern. Irgendwie war ihr das wie ein Sakrileg vorgekommen. Anstatt das Licht anzuknipsen, schritt sie durch das dunkle Zimmer zum Fenster und blickte hinaus über die dunklen Felder. Es hatte nicht aufgehört zu schneien.
Wieder verspürte sie ein merkwürdiges Frösteln. Sie dachte an den Fahrer des Pick-ups, der ihren Wagen gestreift hatte, an ihre Blicke, die einander begegnet waren. Kannte sie ihn tatsächlich? Oder hatte sie sich in diesem Augenblick des Schreckens geirrt?
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Kapitel 16
O kay … nein … warte …« Pescoli, die ihrer Partnerin Selena Alvarez in einer Nische im Wild Will gegenübersaß, hob beschwichtigend die Hände und legte den Kopf schief. Es war einen Tag nach Thanksgiving, und sie hatten sich im Zentrum von Grizzly Falls in einem
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