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Zwischen den Gezeiten

Zwischen den Gezeiten

Titel: Zwischen den Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Wallner
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Gartenhaus und betrachtete ihr Lamm. Sein verwundetes Maul stand offen, das Fell hatte den Glanz verloren, die kleinen Hufe lagen gekrümmt. Sie spürte den Blick der Eltern, preßte die Hände ineinander. Nicht der Anblick, nicht die Traurigkeit, ihre eigene Verantwortungslosigkeit traf sie am meisten. Morgens hatte sie das Lamm noch zu
füttern versucht, mit neuer Hoffnung, weil es den Kopf hob. Als es starb, war sie nicht da. Inga schlug vor, das Tier in die Schubkarre zu packen und zum Metzger zu fahren.
    Â»Es ist gestorben «, antwortete Marianne. »Das ist etwas anderes als Schlachten.«
    Inga erinnerte die Eltern an die Pendeluhr und das Fleisch, das davon gekauft werden sollte, sie erbot sich, alles selbst zu erledigen, der Metzger werde schon wissen, was zu tun sei.
    Â»Das wäre nicht nötig gewesen«, schüttelte die Mutter den Kopf.
    Erik ertrug die Stimmung nicht länger, nahm den Spaten aus der Ecke und fragte Marianne, an welcher Stelle es ihr recht sei. Sie zeigte zur nördlichen Seite des Gartens.
    Â»Nicht das erste Ostern, an dem es kein Fleisch gibt«, murmelte er, ging hinaus und grub. Inga half ihm mit den großen Steinen, die Mutter setzte sich in den Gartenstuhl und rauchte; es war immer noch unwirklich früh. Erik hüllte das Lamm in einen Kartoffelsack, gemeinsam legten sie es in die Grube. Als der Hügel sich darüberwölbte, kam die Sonne hervor. Er ging hinein, Frühstück zu machen, Marianne folgte ihm nach der zweiten Zigarette, Inga brachte den Spaten zurück, schaffte das Stroh zum Kompost und ging auf ihr Zimmer. Die Arme unterm Kopf verschränkt, dachte sie an die Nacht bei den Spielern.
    Abends gab es gefüllte Kartoffeln. Erik schnitt die Deckel ab, höhlte die Knollen aus und füllte sie mit Zwiebeln und getrockneten Pilzen, dazu Salz und Petersilie, er stellte die Kartoffeln in die Gemüsebrühe und kochte sie gar. Keiner hatte seither ein Wort über das Lamm gesprochen, Eriks Strafe war, Inga während des Kochens nicht anzusehen. Vom Dampf rutschte ihm die Brille auf die Nasenspitze. Aus Mehl und Fett rührte er eine Tunke an, tat Essig und Senfpulver dazu und garnierte mit Lorbeerblättern – Eriks gekochte Mayonnaise.
    Im Balkonzimmer deckte die Mutter den Tisch. Der silberne Kerzenleuchter brannte, die Servietten mit Großvaters Monogramm lagen neben dem guten Besteck.

    Â»Das Tischtuch vom Hans ist nicht da«, sagte sie. Kein Vorwurf, nur Verwunderung in ihrer Stimme.
    Seit Wochen hatte niemand die Kommode geöffnet; wieso heute?
    Inga zeigte auf den festlichen Tisch. »Ostern ist erst in einer Woche.«
    Marianne behielt die Tochter so lange im Blick, bis sie von selbst begriff.
    Â»Heute?« fragte sie leise. Es war der dritte April.
    Marianne wandte sich zur Anrichte, Inga kam ihr zuvor, holte das Bild ihres großen Bruders und stellte es neben den Kerzenleuchter. Horst war Erik so ähnlich, nur die Augen schauten noch sanfter. Sein Zeugnis von der montanistischen Fachhochschule hing an der Wand. Inga erinnerte sich an sein Damenfahrrad, das er ihr nie geliehen hatte, an ihren Neid, weil der Bruder die Schule früher beendete, als sie damit begann.
    Â»Als wir das Bild machen ließen, dachte keiner, daß es sein letztes ist.« Marianne strich über die Photographie.
    Der dritte April vor neun Jahren, die Panzerfaust, der schwarz geränderte Brief, die Ohnmacht des Vaters, aus der er drei Tage lang nicht erwachte. Für Inga begann Horst zu verblassen, der Krieg verblaßte. Ihres Vaters Bilder auf dem Speicher, ein vergessenes Lied im Radio, alles Erinnerung; dort verwahrte sie Horst. Er hätte sich geschämt, daß sie für die Engländer arbeitete; den Luftangriff auf ihre Insel, die Jubelberichte hatte er noch erlebt.
    Später an diesem Tag, es war schon dunkel, stieg Inga auf den Speicher. Seit langem hatte sie ihre Meeressammlung nicht mehr hervorgeholt. Jemand mußte den Holzkasten bewegt haben, die Muscheln lagen bunt durcheinander. Ihre Farben erschienen Inga matt, wie tot, sie öffnete das Glas, die Finger suchten zwischen den Schalen. Tage an der See hatte es ewig nicht mehr gegeben, Sand und Strände, das endlos flache Wasser, als ob das Meer die Erde nur fußtief bedeckte. Inga hatte die Muscheln selbst gesammelt, und doch meinte sie jetzt sie einer fremden Person wegzunehmen.

    Sah sie sich draußen am Wasser, kam ihr eine viel

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