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Zwischen den Gezeiten

Zwischen den Gezeiten

Titel: Zwischen den Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Wallner
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Der Vater half ihr beim Anziehen, ging liebevoll mit der Bürste durch Ingas Haar. Er war der Bahnhofsvorsteher, doch an diesem Tag trug er nicht den üblichen Rock, sondern die Goldfasan  – Uniform. Umringt von Männern in schwarzen Anzügen warteten sie auf dem Bahnsteig. Vom gegenüberliegenden Gleis rief einer etwas von braunen Bonzen, Schutzmänner wurden hinübergeschickt und schafften den Randalierer fort. Der Zug fuhr ein, der berühmte Mann lachte und nahm die Blumen entgegen. Bevor Inga das Gedicht beendet hatte, hob er sie auf den Arm und drückte ihr Gesicht gegen seine Wange. Auf dem Bahnsteig wurde geklatscht, wohin sie sah, freundliche Gesichter, hinter den Brillengläsern die glücklichen Augen des Vaters. Heute wie damals hätte sie nicht sagen können,wer der Berühmte war, noch weshalb er zu ihnen kam – aber sie dachte an einen besonderen Tag.
    Schreibend musterte Inga den Vorgesetzten, trübe starrte er auf seine Schuhspitzen, diktierte zweitens und bezugnehmend, der Hund gähnte jaulend. Die abgewetzte Tischkante, das fehlerhafte F der Maschine, der saure Atem des Officers – das war die Normalität. Inga wollte darin nicht verharren, statt dessen hatte sie vor, das Spiel zu erlernen. Sie schlug den Stenoblock so heftig um, daß das Papier einen Riß bekam.
    Unvermittelt stellte sich der Officer vor sie. »Diese Sache Samstag nachts – was ist da passiert?«
    Sie sah seinen Augen an, daß ihn ihre Verfehlung kaum interessierte. Inga erzählte die erstbeste Lüge, der Officer erteilte ihr einen Verweis, pfiff nach dem Hund und ging zum Tee ins Casino.

    Sie war schlank und fest, trug die graue Kostümjacke offen, eigentlich war sie klein, doch jetzt, im Türrahmen, das Glas in der Hand, hätte sie nicht größer erscheinen können. Ihr Haar war kurz und die Farbe so unecht, wie Inga es noch nie gesehen hatte. Die Frau hatte ein kräftiges Kinn, die Haut spannte über dem Knochen; wäre man ihr auf der Straße begegnet, hätte man an eine ältere Frau gedacht, dabei war sie jünger als Marianne. Die Frau im Kostüm bemerkte Ingas Blick, machte eine Geste, als zeichne sie deren Kleid mit der Hand nach.
    Â»Selbst genäht?« fragte sie auf Deutsch.
    Bevor Inga ins Schrankzimmer geschlichen war, hatte sie Mutters Schlaf abgewartet; gleich darauf leuchtete sie deren Sachen Stück für Stück ab, fand Kleider aus einer anderen Zeit. Von einem Mantel verdeckt, war das rosa Getupfte an der Wand gehangen, noch in der Nacht hatte Inga einen Volant an den Saum geheftet, zumindest die Länge stimmte.
    Â»Von meiner Mutter«, antwortete sie und verschränkte die Arme, um ihre Taille zu verdecken. Sie hatte im Rücken Stoff ausgelassen, doch es saß immer noch straff, an der Brust drohte der Knopf abzuspringen.
    Â»Es macht dich jünger«, sagte die Frau. »Willst du jünger aussehen?« Sie trat über die Schwelle und stellte das Glas ab. Bevor Inga antworten konnte, klatschte die andere in die Hände. »Die Karten werden kalt!«
    Wie auf Befehl kamen die Männer in die Baracke zurück – der Brillenträger, der Flüsterer, zuletzt der Leutnant. Er hatte Anfang der Woche Krücken bekommen und bemühte sich, sie wie selbstverständlich zu gebrauchen; es sah ungelenk aus.
    Gründonnerstag. In einem kleinen Sack hatte Inga alles, was sie brauchten, in der Sandbucht hinter dem Hangar versteckt, auch das rosa Kleid. Obwohl die Feiertage bevorstanden, hatte sie nach der Mittagspause nicht gehen dürfen, der Officer entließ sie erst eine Minute vor Dienstschluß. Sie deckte die Hülle über die Maschine, wünschte frohe Ostern und gab den Schlüssel ab. Zuhause
hatte sie von einer Verabredung mit Henning erzählt – er wollte mit den Jungs einen Ausflug machen, würde zu beschäftigt sein, die Eltern zu besuchen. Unweit des Munitionsdepots hatte Inga die Dunkelheit abgewartet. Es war falsch und verboten – doch wie sehr sie sich darauf freute! Als der Streifenposten am entgegengesetzten Ende des Lagers angekommen war, eilte sie zu der sandigen Stelle und ergriff den Sack. Ohne den Wald zu verlassen, hatte sie sich entlang der Rollbahn bewegt, die leere Baracke erreicht und war an die Arbeit gegangen. Sie hatte die Stühle verkehrt auf den Tisch gestellt und den Raum gefegt, Onkels Tischtuch ausgebreitet und über

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