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Zwischen den Gezeiten

Zwischen den Gezeiten

Titel: Zwischen den Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Wallner
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Jüngere entgegen. An jenem Tag an der Nordsee hatte sie zwei Dutzend der seltenen roten gefunden, ihre Gehäuse waren versteckt in die Schale gedreht, man konnte sie leicht für Steine halten. Inga sortierte sie zwischen den grauen und grüngestreiften heraus und legte sie in die Fächer zurück. Die schönste nahm sie in den Mund, glänzend von Speichel hielt sie die Muschel ins Licht der Kerze. Nun war sie nicht mehr tot.

6
    S ie fragte, ob man ihn angeschossen habe.
    Â»Es wird nicht mehr geschossen«, sagte der Leutnant. Der Tag war so bedeckt, daß sie in der Krankenstation das Licht brennen ließen. Inga saß an der Terrassenbrüstung, er hob das Bein aus dem Rollstuhl, der Verband zeichnete sich unter der Hose ab.
    Â»Was ist mit dem Knie passiert?«
    Â»Man hat mich aus dem fahrenden Auto geworfen.« In seinen Augen las sie die Lust zu schockieren. »Eine Meinungsverschiedenheit.«
    Â»Beim Spiel?«
    Â»Du bemerkst viel.« Er schaute in die Baumkrone, wirkte krank, erschöpft, weißer denn je. Von drinnen näherte sich die Schwester.
    Â»Kannst du für mich noch einmal die Kellnerin machen?«
    Â»Wann?« fragte Inga zu hastig.
    Â»Donnerstag.«
    Sie erinnerte ihn, daß es Donnerstag vor Ostern sein würde.
    Â»Gut. Da sind alle ausgeflogen«, nickte er. »Die Herren haben nach dir gefragt.« Wie eigenartig er sie ansah.
    Â»Zeigen Sie mir, wie man spielt.«
    Nachlässig legte er ihr die Hand auf die Schulter. »Das Normale genügt dir nicht, Inga.«
    Da war die Herablassung wieder. Sie fragte sich, warum sie sich ihm unterlegen fühlte. Die Engländer, die sie sonst kannte, waren Männer, die sich im fremden Land, in der Rolle des Besatzers, nicht leicht zurechtfanden. Sie überspielten es mit Witz, lässiger Lebensart,
wenige durch herrisches Auftreten. Die meisten wirkten, als ob sie nur zufällig in der hellbraunen Montur steckten. Inga sah in den Briten Vorgesetzte, manchmal Kollegen, selten den Feind. Alec Hayden war nicht älter als dreißig, in niedrigem Offiziersrang, in seinem Zivilberuf mochte er Büroangestellter oder Handelsvertreter sein, bestimmt kein großes Licht, dachte Inga. Und doch kam sie sich in seiner Gegenwart kindisch vor, benahm sich auch so, ihre Unsicherheit spiegelte sich in seinem Verhalten. Was sollte die Andeutung eben, war es an ihm, sie zu schulmeistern?
    Â»Was meinen Sie damit?« Sein Ton, die schlaffe Hand auf ihrer Schulter, reizten Inga zum Widerspruch.
    Â»Man ißt ein Sandwich«, antwortete er. »Man ärgert sich übers Wetter, macht ein Geschäft auf dem Schwarzmarkt. Inga aber genügt das normale Leben nicht.« Die weißen Finger glitten ihren Oberarm entlang. »Sie will das Besondere. Sie erwartet es.«
    Die Schwester trat ins Freie. Ohne Hast zog der Leutnant die Hand zurück und legte sie in den Schoß.
    Â»Ich helfe Ihnen, wenn Sie mir zeigen, wie man spielt«, sagte Inga, ungeachtet des Blickes der Schwester.
    Â»Donnerstag also.« Der Leutnant rollte los, machte mit dem Stuhl noch einmal kehrt. »Die erste Regel lautet: Manchmal ist es von Vorteil, etwas zu geben, ohne sofort etwas dafür zu bekommen.« Er fuhr hinein.
    Inga verließ die Terrasse, lief an den Hagebutten entlang, suchte die Verwirrung abzuschütteln. Zwischen den Bäumen tauchte die Nachschubbaracke auf. Sie würde sich für den fehlenden Schlüssel rechtfertigen und erklären müssen, warum sie sich nachts beim Diensthabenden nicht abgemeldet hatte. Als sie die Kanzlei betrat, hob unterm Schreibtisch der Cockerspaniel den Kopf; im Dunkel seiner Höhle sah man nur die glänzenden Augen. Der Officer wollte Briefe diktieren, Inga rutschte auf den Stuhl und preßte die Knie aneinander. Sie setzten ein kompliziertes Schreiben ans Nachschubkommando auf, er korrigierte den Entwurf mehrmals; kein Wort über Ingas Vergehen.

    Sie stellte sich das Besondere als eine Blendlaterne vor, die von weitem geschwenkt wurde; jeder lief darauf zu, ohne zu wissen, was ihn erwartete. Ein weit zurückliegendes Ereignis fiel ihr ein, es war Friedenszeit gewesen, sie selbst sieben Jahre alt. Ein berühmter Mann kam in die Stadt, ihr Vater sagte, sie dürfe ihm den Willkommensgruß überbringen; ob sie das Gedicht An die Freude noch auswendig wüßte. Einen Tag später lag ein helles Kleid auf ihrem Bett, mit Schleifen an den Ärmeln.

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