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Zwischen den Gezeiten

Zwischen den Gezeiten

Titel: Zwischen den Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Wallner
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Gabardine den eleganten Flanell trug, blieb sein Geheimnis, jedenfalls beantwortete der Sergeant Eriks Frage nach dem unerhörten Eindringen höflicher, als es seine Absicht gewesen war. Es gehe um Diebstahl, eine formelle Durchsuchung, er verbat den Eltern jede Kontaktaufnahme zur Tochter. Erik stand kerzengerade, seine Hand suchte die Tischplatte, um die Knöchel darauf zu stützen. Marianne sah Inga nur an. Auch wenn der Tochter beider Blicke durch Mark und Bein gingen, war die Befürchtung, welche Schlüsse sie zogen, noch schlimmer. Sechzehnter Juni, sagte der Kalender an der Wand –
mußten sie nicht annehmen, Inga habe für sie gestohlen? Durchsuchung, Anklage, das Erschrecken der Eltern, Mariannes Vorwurf, Eriks Verzweiflung hätte sie ertragen, nicht aber die Herzensverwirrung der beiden. Nicht deren Not hatte Inga zur Tat getrieben, deren ausweglose Situation war nicht der Grund für ihre eigene – Ingas Motive waren so gewöhnlich und voller Eigennutz, daß ihre schlimmste Befürchtung war, sie offenbaren zu müssen. Darum erschien ihr die Lüge folgerichtig und verlockend zugleich.
    Â»Ein dummer Irrtum«, sagte sie, das Gebot des Sergeants mißachtend. »Ich habe nicht gestohlen.«
    Sie wurde gemaßregelt, die MPs ergriffen ihre Arme, der Sergeant fragte, wo Ingas Zimmer sei. Erik war anzusehen, wie heftig er aufbrausen wollte.
    Â»Oben«, antwortete sie rasch.
    Zu viert machten sie kehrt, liefen in Reihe die Treppe hoch, am Eingang zur Mansarde wurde Inga angehalten, die Polizisten drängten ins Zimmer. Erik erschien im ersten Stock, dahinter die Mutter, der Sergeant schirmte die Familie voreinander ab. Seltsame Dinge kamen zum Vorschein, zerbrochenes Spielzeug, Bilderbücher mit Hakenkreuz, das Puppenhaus mit zerquetschtem Dach, in das Horst seinen Ball geworfen hatte. Inga beobachtete, mit welchem Ernst die Polizisten ihre Wäsche durchsuchten, Schuhe und Strümpfe und all die Kleinigkeiten.
    Â»Weiter«, sagte der Sergeant und zeigte zur Leiter, die auf den Speicher führte.
    Â»Kommt nicht in Frage!« rief der Vater.
    Das Verbot reizte den Sergeant um so mehr, er stieg als erster hinauf, Inga wurde befohlen zu folgen. Umsonst hielt sie den Rock um die Knie fest, der MP dahinter mußte ihre Beine sehen. Während sie kletterte, durchfuhr sie der Schreck – die Bilder, Eriks unvernichtete Erinnerungen, die Mappen und Ölgemälde, der Schmuck des Goldfasans. Erik stand kreidebleich neben der Luke; unfähig zu folgen, wartete Marianne am Fuß der Leiter. Sie suchten sorgfältig und lange, sie fanden alles, bis auf das Geld. Mit einem Mal
wurden nicht gegen Inga Beweisstücke gesammelt, sondern gegen ihren Vater. Die Militärpolizisten hatten alle Hände voll zu tun, den Fund nach unten zu schaffen; ein Bild rutschte und fiel, neben Marianne prallte der Führer auf die Dielen, sein Blick mißbilligte das Tun der Engländer. Da habe man ja in ein richtiges Nest gestochen, kommentierte der Sergeant seinen Erfolg.
    Es ging in den Garten, sie warfen Eriks Harken und Bohnenstangen durcheinander, durchsuchten das Stroh, den Schuppen. Als sie mit Inga das Grundstück verließen, waren in allen Nachbarhäusern die Fenster besetzt; die Neugier veränderte die Mienen der Leute, die Inga von Kindesbeinen an kannten.
    Auf dem Rückweg wirkten alle ermüdet, der Sergeant saß gegen die Stahlstrebe gelehnt. Die Trägheit erfaßte auch Inga, für Momente versank sie, schrak hoch, als sie die Pappelallee längst hinter sich hatten. Sie war überzeugt, nun würde das Verhör beginnen, fragte sich, ob man jemand aus der Stadt schickte oder ob der Commander den Fall selbst übernahm. Von der Lagereinfahrt ging es jedoch nicht zur Kommandantur, sondern links herum, auf den Weg zum Haftblock.
    Sämtliche Baracken hatten Gitter vor den Fenstern, die eine, in der sich die Zellen befanden, unterschied sich nur durch die Tür aus Metall. Das Inhaftierungsformular kam Inga in den Sinn, ein halbseitiges Blatt, Name und Einheit, die Zeile für den Haftgrund, ein Kästchen für die Anzahl der Tage, ein anderes für die Zellennummer. Gewöhnlich hatte, nachdem Inga das Ausfüllen übernahm, der Kommandant seinen Krakel daruntergesetzt, der Sergeant leitete die Order weiter. Während sie ausstieg, überlegte Inga ernsthaft, wer das Formular für ihre Inhaftierung ausgefüllt

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