Zwischen den Gezeiten
haben mochte. Womöglich war der Vorgang noch unbearbeitet; unerledigte Akten waren dem Commander ein Greuel, nur ein leerer Schreibtisch sei ein leistungsfähiger Schreibtisch, hatte er ihr eingeschärft.
Sie schlossen von auÃen auf, woran Inga erkannte, im Inneren gab es keine Wache, sie würde die einzige Insassin sein.
»Wann werde ich verhört?« stellte sie den Sergeant zur Rede.
Der hielt vor dem dunklen Viereck, das Inga nun aufnehmen würde. »Früh genug.«
»Ich habe nichts verbrochen«, sagte sie mit Festigkeit. »Ich habe ein Recht, meine Unschuld zu beweisen.«
»Mach mir keine Schwierigkeiten, Inga.« Er bekam jenen trüben Ausdruck, wie wenn er nachmittags sein erstes Bier herbeisehnte. »Morgen ist auch ein Tag.«
»Morgen?« Auf den letzten Schritten überlegte sie das Kleiderproblem; sie trug das Leichte aus Baumwolle, hatte nichts, sich umzuziehen, in ihrer Unterwäsche zu schlafen, schien ihr unschicklich. Auf den Stufen lieà der Sergeant ihr den Vortritt.
»Der Chef ist längst heimgefahren.«
Der schmale Flur, rechts und links Eisentüren, es war heià wie in allen Baracken, sie aber durchfuhr die Kälte. Der junge Flieger fiel ihr ein â Taschenmesser, Feuerzeuge, eine Uhr hatte er gestohlen  â, wie lange war er eingesessen? Wie würde das Kriegsrecht bei ihr zur Anwendung kommen? Der Fahrer des Wagens tauchte mit dem Schlüsselbund auf, hatte Mühe, den richtigen zu finden. Wie war die Sache entdeckt worden? Durch den Commander persönlich, sein Ritual, den Tresor zu öffnen, um die Reisebilder zu betrachten â hatte Inga etwas in Unordnung gebracht, die Schatullen nicht an ihren gewohnten Platz gestellt? Schwer ging das Türblatt in den Angeln, im Inneren war es kühler als erwartet, das Bett unterschied sich nicht von denen in den Unterkünften; das Waschbecken, der Eimer â Inga spürte den neugierigen Blick des Sergeants. Keine Kritzelei an der Wand, kein Gestank, es war ein hübsches Zimmer mit Blick auf die Felder, der Mais stand für Juni schon hoch. Sie drehte sich um.
»Bis morgen«, sagte der Unteroffizier, überraschende Wärme in seiner Stimme. Sie setzte sich, strich über die Wolldecke, hörte das zweimalige Sperren der Tür. In diesem Moment wurde ihr klar, daà es von nun an für sie nichts mehr zu tun gab. In Gedanken rià sie das Kalenderblatt ab.
29
D as Kleid am Nagel neben dem Waschbecken, die Decke um ihre Schultern, die Sandalen dicht bei den FüÃen â nachts würden sie nicht kommen; Ingawollte dennoch bereit sein. DrauÃen streichelte ein Ast die Baracke, der Gitterschatten an der silberigen Wand, vom Bett aus hatte man freien Blick auf die Landschaft. In den wenigen Stunden Dunkelheit hatte Inga Katzen streunen, einen Hasen springen gesehen, auf der LandstraÃe waren acht Autos vorbeigefahren. Nun schwand der Mond, die Konturen verschwammen.
Eriks beidseitig gebügelte Hemdkragen fielen ihr ein, die Sakkos mit den Schulterpolstern, seine Kniestrümpfe, durch Gummizug festgehalten, der Seidenglanz seiner Krawatte, der polierte Schuh. Als er zum ersten Mal einsaÃ, hatten sie seine übertriebene Sauberkeit belächelt, die er als Festung um sich errichtete und verteidigte bis zum SchluÃ. Das Parteimitglied, der Goldfasan wuÃte nicht, daà man damals einem Schwerverbrecher auf der Spur war, Kommandant der Waffen-SS, der mit seinem Hinrichtungskommando über die Dörfer zog, henkte, erschoà und die Kapitulation durch Einschüchterung hinauszögern wollte. Häufig war er in Gesellschaft eines Hünen gesehen worden, ein riesiger Mensch mit Seil über der Schulter, der auf den Wink des Kommandanten Leute auf offener StraÃe ergriff und an der nächsten Laterne henkte. Der Mann war von vielen beschrieben worden, ein schöner, strohblonder Teufel, angeblich Brillenträger â in seiner Zelle hatte Erik keine Ahnung davon, wie ähnlich er jenem sah und was die Verhöre bedeuteten, die ihn mit dem Henker in Verbindung
brachten. So wuÃte Ingas Vater auch nicht, daà die Engländer in ihm weit mehr als einen Nichteinwandfreien sahen. Kurz vor Eriks ProzeÃbeginn wurde der SS-Kommandant im Wald gestellt, seine Rotte aufgerieben, der blonde Hüne starb nicht am Strang, sondern durch die Kugeln des britischen Schnellgerichts.
Inga hob die Beine aufs Bett,
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