Zwischen den Gezeiten
gegangen. »Ãbelkeit«, schüttelte er den Kopf, als sei er wegen Mutters Gesundheitszustand hier. »Sie hat das sonst nie.«
»Vielleicht die Hitze.« Inga legte die Unterarme auf den Tisch.
»Hitze verträgt sie schlecht«, nickte er.
»Papa, ich habe nicht gestohlen.« Sie nahm an, der MP verstand nur Englisch, andererseits hielt Inga die Briten nicht für so arglos, ihren Vater und sie ungestört plaudern zu lassen.
»Das wollen wir ⦠Das hoffen wir von Herzen«, sagte der groÃe Mann mit dem Wisch in der Hand.
»Macht euch keine Sorgen.« In gespielter Zuversicht beugte sie sich vor. »Der Kommandant war beim Verhör sehr freundlich zu mir. Ihr braucht euch keine Sorgen zu machen.« Mit jeder Lüge fühlte Inga sich leichter, der Betrug gewann die Oberhand, der Betrug wurde stark, als sei er die Wahrheit â und allmählich verdrängte er sie. »Es klärt sich alles auf«, lächelte sie den erschöpften Vater an.
Sein Blick ging zum Wärter. »Die Engländer ⦠waren noch nicht wieder da.« Er senkte die Stimme. »Was werden die meinetwegen unternehmen?«
Inga wuÃte es nicht. Bilder auf dem Speicher â Himmelherrgott, bei jedem Zweiten würden sie ähnliches finden. Den Stempel, daà er bei der Partei gewesen war, trug Erik in seinen Papieren, die Bilder änderten nichts. Nach der Haft hatte er in ein Entnazifizierungslager gemuÃt, stand ihm nun Schlimmeres bevor?
»Und wenn du zum Kommandanten gehst -« begann sie vorsichtig.
»Mit meinem Englisch?« Seine Panik erschreckte sie. »Könntest du nicht â ?« Er nahm die Brille ab, die Augen hatten dunkle Ränder. »Du kennst deinen Offizier schon so lange. Rede mit ihm.«
Innerlich muÃte sie lachen â ihr Vater wünschte sich, daà sie von der Anklagebank aus ein gutes Wort für ihn einlegte.
»Five minutes«, sagte die Wache.
»Warum redest du nicht mit Frau Seidler?« Sie beugte sich vor. »Vielleicht ist sie bereit â«
»Die Seidler ist mir egal.« Er klang plötzlich härter. »Der habe ich nichts getan.« Ein Blick zum MP. »Versteht er uns?«
»Kann man nie sagen.«
Der Vater zupfte an der Brusttasche, bis das Stecktuch darin ein ordentliches Dreieck bildete. »De Engländer haewt wat«, sagte er im tiefsten Platt. »Wat, von dat se net wet, dat se dat haewt.« 1 Selbst für einen Deutschen, der nicht aus der Gegend kam, waren die Worte unverständlich.
»Wat haewt de?« Inga senkte die Stimme.
»Die Registratur der auÃerplanmäÃigen Züge.«
»Wieso liegt die auf dem Speicher?«
Erik sprach schnell, doch fast nebenbei, als erzähle er eine Belanglosigkeit. »Einmal erhielt ich einen Anruf, ein Zug muÃte umgeleitet werden. Lokschaden, der Transport brauchte neuen Antrieb, ich sollte umkoppeln lassen.«
»Was für ein Zug?«
»Fünfhundert Einheiten.« Er sah sie an. »Sonderbehandlung. Man schärfte mir ein, möglichst wenig Personal einzusetzen.«
»Ein Frachtzug?« Inga lehnte sich unmerklich zurück.
»Es war ein Personentransport.«
»Was bedeutet fünfhundert Einheiten?«
»Arbeitseinsatz â Umsiedlung â« Er zupfte an der Krawatte. »Ich weià es nicht.«
»Warum hast du nicht gefragt?«
»Die Papiere waren in Ordnung.« Er sprach eindringlicher. »Ich habe die Lok austauschen lassen, alles verlief ordnungsgemäÃ.«
»Du wuÃtest, was du transportiert hast?«
»Es war Nacht. Ich habe von diesen Menschen nichts gesehen.«
Inga sah das Hochzeitsbild ihrer Eltern, die strahlende Marianne, Erik in Schwarz, das Unbekümmerte hinter den Brillen.
»Timeâs up«, sagte die Wache.
Der Vater stand auf, nahm Ingas Hand. »Vielleicht ist den Leuten ja gar nichts passiert.«
Der MP kam hoch, der Schlagstock machte ein hartes Geräusch gegen den Tisch.
»Hätten sie während deines Prozesses von diesem Zug gewuÃt â« Inga zog ihre Hand zurück. »Wäre das Urteil anders ausgefallen?«
Der Wächter trat an die Tür.
»Möglicherweise.«
»Wieso hast du das Buch nicht verbrannt?«
»Ich habe es hinaufgetragen, abgelegt, eingesperrt.« Die Sorge kehrte in Eriks Augen zurück. »Keine Ahnung wieso.«
Während sie dem Vater nachschaute,
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