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Zwischen den Gezeiten

Zwischen den Gezeiten

Titel: Zwischen den Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Wallner
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begriff Inga, daß es für ihn, für sie selbst, für Marianne nichts zu hoffen gab. Sie standen auf einem Grat, den sie bis jetzt nicht wahrgenommen hatte; die Zukunft lag verschüttet, die Vergangenheit drängte immer dichter heran. Die Feinde saßen zu Gericht. Inga stellte sich vor, wie sie ins Gefängnis gehen, nach Monaten, Jahren wieder herauskommen würde. Ihre Freiheit mit Stenoblock und Schreibmaschine war eine erträumte gewesen; sie hatte das bißchen Zukunft verspielt.

    Du bist noch so jung, hatte Henning gesagt; was war das schon? Erik war auch jung gewesen, ein junger Bahnhofsvorsteher, der nachts Züge umkoppeln ließ. Rechtsprechung, dachte sie – wer hatte den Menschen im Zug Recht gesprochen? Knapp vor Inga ging der MP zum Zellenblock, so langsam, daß sie mehrmals stehenblieb, um ihm nicht auf die Fersen zu treten. Er schloß auf, ließ sie vorbei, sperrte ab. Statt sich auf die Pritsche zu setzen, ging sie ans Fenster und legte die Hände ans Gitter.

    Â»Ich bezahle meine Schulden.«
    Die geschlossenen Läden sperrten das Tageslicht aus, Marion und der Leutnant saßen im Deux-à-Deux, die geschwungene Lehne trug beider Oberarme. Um zur Tasse zu greifen, beugten sie sich in entgegengesetzte Richtungen.
    Â»Da müßtest du zaubern können«, antwortete sie.
    Â»Als ob du das nicht wüßtest.« Er berührte nicht ihr Handgelenk, nur das Silberarmband.
    Â»Gabor sagt, die Russen liefern ein weiteres Männchen. Wirst du bezahlen?«
    Der Leutnant betrachtete Marions Profil, stellte sich zugleich vor, wie Inga den Käfig öffnete, rücksichtslos in ihrer Neugier und voll kindischer Reue, nachdem der Nerz entschlüpft war.
    Â»Gabor soll mir seinen Preis nennen.«
    Verirrtes Sonnenlicht spiegelte sich im Deckel der Zuckerdose.
    Â»Willst du mir das Füllhorn nicht verraten, aus dem du so plötzlich schöpfst?« Marion nahm die Zuckerzange, das Licht sprang an den Plafond.
    Schweigend ließ er sich nachgießen, rührte, bis das Zuckerstück verschwunden war. »Wann bringt Gabor die Ladung nach drüben?«
    Sie klopfte das Kissen zurecht. »Wieso interessiert dich das?«
    Â»Haben wir noch Zeit – für eine Partie?« Er schaukelte den Zukker in der Flüssigkeit.

    Â»Du hast das Geld also nicht?« sagte die Kosigk mißtrauisch.
    Â»Keine Sorge, ich habe es«, lächelte er. »Und niemand ist darüber erstaunter als ich.«
    Â»Spielschulden kann man nicht setzen«, antwortete sie.
    Â»Alles oder nichts.« Er betrachtete den blauen Stein in der Vertiefung zwischen ihren Brüsten.
    Â»Und wenn du verlierst?«
    Â»Dann möge Schottland mich nie wiedersehen!« Er gab seinem Gesicht einen melodramatischen Ausdruck; die Miene schmerzte, er hielt sich den Kiefer.
    Â»Ich mag nicht, daß dir der Tod gleichgültig ist.«
    Â»Große Worte.« Er trank aus.
    Â»Eins noch – die Kleine, ich kann mir den Namen nicht merken  –, sie kommt nicht mit, verstanden?«
    Â»Inga?« Er tat überrascht. »Ich bin sicher, sie hat etwas anderes vor.«
    Er stand auf, in der Bewegung zur Tür nahm er das lebensgroße Gemälde wahr; wer den Ausgang passierte, mußte am General vorbei. Die Hand am Offiziersdolch, der Scheitel wirkte zerzaust; Alec fragte sich, wieso Marions Mann sich in der Wintermontur hatte malen lassen.
    Â»Die Zeit nach seinem Tod –« Er hielt den Blick erhoben. »Du hast das großartig gemeistert.«
    Â»Ich stamme aus einer Familie von Militaristen«, antwortete sie. »Bei uns wurden auch die Mädchen so erzogen, als gehe es eines Tages zur Front.« Sie überlegte. »Diesen Monat wäre er fünfundfünfzig geworden.«
    Â»Morgen paßt es mir am besten.« Alec trat unter dem General hindurch auf den Korridor. »Gabor soll den besseren Gin besorgen.« Er überlegte einen Moment, welchen Treppenabgang er nehmen sollte, und ging, so rasch er konnte.

31
    I nga sah sich selbst, wie sie mit ihrem einzigen Koffer den Zug bestieg. Die Abreise war überstürzt, kein Abteil zu bekommen, sie mußten die ganze Strecke bis zum Hafen stehen; manchmal sank sie auf dem stickigen Gang zu Boden, nickte ein, spürte, wie er ihr übers Haar strich. Als sie das Meer erreichten, war das Schiff noch nicht zur Abfahrt bereit, sie zeigte zum Strand, der hinter den Hafenanlagen

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