Zwischen den Zeilen
Kurs keine sonderlich gute Idee.
»Haben Sie gut hergefunden?«, fragt sie eher unverbindlich. Ich nicke. Antworten kann ich grad nicht.
»Möchten Sie ein Wasser? Oder einen Kaffee vielleicht?«, bietet sie an.
»Nein, danke«, wispere ich förmlich. Am liebsten würde ich weglaufen. Ich zwinge mich zu einem Lächeln und schlucke die Bitterkeit hinunter. Die Scham darüber, dass ich zu dumm bin. Vermutlich merkt sie gleich, dass ich ein hoffnungsloser Fall bin, und findet gar keinen Kurs für mich. Ich hoffe nur, sie darf wenigstens mit niemandem darüber reden.
»Ist es in Ordnung, wenn ich mir Notizen mache?«, fragt sie.
»Denke schon«, antworte ich und zucke die Schultern.
»Gut.« Sie zieht eines der Blätter, die auf dem Tisch liegen, zu sich und greift nach einem Stift. Dann lächelt sie wieder. Ich bemühe mich, es zu erwidern, aber ich fürchte, ich bin nicht besonders überzeugend. Und ein bisschen wünschte ich mir, Daniel wäre doch hier und würde für mich reden. Oder Josh. Seine Hand auf meiner Schulter… Ich versuche, an ihn zu denken. Daran, wie es sich anfühlt, wenn er mich berührt. Und daran, dass er es wert ist...
Ich weiß nicht, ob ich es ihm irgendwann sagen werde, falls ich es wirklich mal schaffen sollte, normal zu sein. So weit, ein Buch zu lesen oder die Fragen auf den Karten seines blöden Spiels. Falls ich es überhaupt schaffe. Denn irgendwie kann ich mir das, ehrlich gesagt, nicht vorstellen. Es ist zu abstrakt. Und vor allen Dingen ist es niemals so gewesen.
Ganz gleich, wie oft ich es versucht hab, ich hab's nie geschafft. Dabei hab ich mich wirklich bemüht. Ich wollte nicht anders sein. Ich hab mir immer gewünscht, dass ich auch irgendwann mal eine Eins habe. Dass meine Mutter stolz auf mich ist oder meine Oma und es allen anderen erzählt. Aber Buchstaben wurden einfach nicht zu Worten für mich. Nach der zweiten Klasse war Deutsch der Horror für mich. Während alle sich meldeten, weil sie vorlesen wollten, hab ich mit feuchten Händen gebetet, dass ich wenigstens dieses Mal nicht drankomme. Mit Händen wie jetzt. Und wenn ich's dann gezwungenermaßen versucht hab, haben alle über mich und mein Gestotter gelacht.
Ich glaube, wir lassen mal Larissa weitermachen, sonst wird das heute nichts mehr, war noch einer der harmloseren Sprüche.
Sobald wir lesen mussten, bekam ich Herzklopfen. Meine Hände fingen an zu zittern und das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, stieg in mir hoch. Ich hab den Kopf eingezogen, wäre am liebsten weggelaufen und hätte alles dafür gegeben, einfach zu sterben.
Ganz schlimm war es, wenn wir der Reihe nach drankamen. Dann wusste ich, dass ich auf jeden Fall lesen muss. Ich hab dann versucht, mich zu konzentrieren und die Abschnitte vor mir im Buch, die ich nicht entziffern konnte, zuzuordnen. Um abzuschätzen, welcher wohl meiner ist. Drei Mitschüler vor mir… drei Abschnitte… Manchmal hatte ich die ersten paar Worte entziffert, bevor ich dran war. Aber mehr als eine Zeile hab ich nie geschafft. Einmal war mir, als ich endlich aufgerufen wurde, so übel, dass ich mich vor der gesamten Klasse übergeben musste. Danach hab ich mich in der Toilette eingeschlossen und geheult. Und wenn ich könnte, würde ich das auch jetzt gerne tun.
Aber ich bin kein Kind mehr. Ich bin erwachsen. Und ich hab zwar nicht lesen gelernt in der Schule, aber dafür, dass es auch nichts hilft, wenn man heult...
***
»Hey!« Euphorisch begrüßt Daniel mich, als ich mich zwei Stunden später durch die Tür des Binderaums schiebe. Marlene kläfft freudig, steht von ihrem Kissen auf und wedelt zur Begrüßung mit dem Schwanz.
Der Verkaufsraum ist leer, aber montags um die Mittagszeit ist nie besonders viel los.
Eigentlich war das Gespräch gar nicht so schlimm. Ich glaube, ein paar Sachen hab ich beim Schreiben sogar richtig gemacht. Jedenfalls hat Frau Abel ziemlich zufrieden genickt. Auch wenn ich total nervös war. Ich musste auch nur schreiben. Nicht lesen.
Es ist schwierig für mich, etwas zu schreiben, wenn mir jemand dabei zusieht. Ich weiß, dass ich viele Fehler mache und ich brauche verdammt lang. Das Einzige, was ich schnell kann, ist meine Unterschrift. Damit es nicht auffällt.
Aber es waren nur Buchstaben. Kleine und große. Ich kann besser große, so, wie auf der Tastatur vom Handy und vom PC. Aber irgendwie habe ich auch die kleinen wohl hinbekommen.
»Hi«, sage ich, streichle Marlene den Kopf und bin wirklich erleichtert.
Vor
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