Zwischen der Sehnsucht des Sommers und der Kälte des Winters
höchste Priorität genoss und nur den wenigsten politischen Auftraggebern zugänglich gemacht wurde. Die Anlagen dazu waren einfach per Post verschickt worden.
Danach war man rasch weitergegangen und hatte sich an die Kurdenproblematik gemacht. Unter den kurdischen Flüchtlingen in Europa herrschte offenbar nicht nur Friede und Eintracht, und wenn die Konflikte aufloderten, dann wurde auch schon mal aufeinander geschossen. Das Problem war, dass man einfach nur aus purer Sturheit auf andere Kurden schoss, was aus sicherheitspolitischem Blickwinkel natürlich der pure Wahnsinn war. Bergs deutsche Kollegen vom Verfassungsschutz standen vor demselben Problem, und da es den Kurden offenbar an politischen Ambitionen mangelte, hatten sie beschlossen, selber aktiv zu werden.
Zuerst wurde der Druck auf die Gewährsleute unter den kurdischen Flüchtlingen verstärkt. Ihnen wurde ganz offen gesagt, dass sie auch gleich ihre Koffer packen und »nach Hause in die Türkei« fahren könnten, wenn sie nicht mehr zu bieten hätten als den üblichen Unsinn über einen weiteren bevorstehenden Mord an einem redseligen Gemüsehändler. Dieses Argument hatte offenbar seine Wirkung nicht verfehlt, denn schon nach zwei Monaten waren ungeheuer beunruhigende Informationen eingelaufen, und zwar von allerlei Infiltratoren in Schweden und in der BRD. Es war klar, dass extremistische politische Gruppierungen unter den Kurden in den Ländern, in denen sie als Flüchtlinge Aufnahme gefunden hatten, Anschläge auf mehrere zentrale einheimische Politiker planten. Auch die neuen Anschläge waren per Briefpost angekündigt worden. Endlich, dachte Berg, der nun doch bewiesen hatte, dass man sogar aus einem ehemaligen Schafhirten aus den Bergen von Diyarbakir Gold herauspressen konnte.
Wenn Berg sehr viel später auf die frühen achtziger Jahre zurückblickte, erschienen sie ihm immer als die glücklichen Jahre in seinem Leben. Er hatte viel zu tun gehabt, aber seine Arbeit hatte ihm auch Spaß gemacht und große Erfolge gezeitigt. Danach hatten sich jedoch die Sorgen eingestellt. Zuerst hatte er einen Regierungswechsel am Hals gehabt. Dass die Bürgerlichen nicht ewig an der Macht bleiben würden, hatte er sich schon längst ausgerechnet, und er hätte natürlich keinerlei politische Stellung bezogen, falls jemand auf die bizarre Idee gekommen wäre, ihn danach zu fragen, doch wenn er die Wahl hätte, dann … natürlich.
Die Bürgerlichen waren pflegeleichter gewesen, sie waren an Leute wie ihn nicht gewöhnt, die Sozis dagegen waren von einem ganz anderen Schlag. Das hatte Berg schon früh erfahren. Er war schon eine ganze Weile dabei, und sechs Jahre in der Warte- schlange vor den Fleischtöpfen hatte ihren Appetit gewaltig wachsen lassen. Sowie das Wahlergebnis vorlag, hatte Berg seinen Terminkalender gesäubert, war mit seinen engsten Mitarbeitern an einen sicheren Ort gereist und hatte drei Tage lang die neue Lage analysiert. Analysiert? Sie waren alles bis ins kleinste Detail durchgegangen. Sie waren vorgewarnt und damit bereit.
Kaum hatte die neue Regierung Posten bezogen, als der militärische Nachrichtendienst mit Hilfe ihrer sorgsam erarbeiteten Kontakte innerhalb der sozialdemokratischen Führung genau den erwarteten Vorstoß machte. Es war der übliche alte Revierkampf, aber diesmal war Berg besser vorbereitet als jemals einer seiner Vorgänger. Am Tag vor der Besprechung in der Regierungskanzlei hatte er die neueste Analyse der Lage an der Terrorfront übersandt und dafür gesorgt, dass diese mit der optimalen Auswahl eigener Beurteilungen der nationalen Sicherheitsdienste gewürzt war. Worin liegt eigentlich der Gegensatz?, überlegte Berg treuherzig. So weit er sehen konnte, waren er und seine Mitarbeiter mit den Kollegen vom Militär ganz und gar einer Meinung.
Berg war nach der Besprechung zu Fuß nach Hause gegangen, und als er zwischen Rosenbad und Kungsholmen durch die Herbstsonne wandelte, hatte er sich dabei ertappt, wie er Beethovens »Ode an die Freude« vor sich hinsummte: »Alle Menschen werden Brüder.« Und als er hinter seinem Schreibtisch Platz nahm, lagen die Unterlagen, die er vor dem Wochenende angefordert hatte, bereits oben auf seinen Papierstapeln.
Zuerst machte er sich über die erbetene Zusammensetzung der neuen Minister, Staatssekretäre und der sonstigen Beamten und Sachkundigen her, die jetzt das Kanzleigebäude bevölkerten. Nicht wenige von ihnen waren bis vor einem Tag im Personenregister der
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