Zwischen Ewig und Jetzt
Augen liegen im Schatten, aber ich kann seinen Piercingring schimmern sehen. Was mich gerade kein bisschen tröstet.
»Ja, ein bisschen. Da«, und ich zeige hinter ihn, »das war … da dachte ich …« Das ist doch wirklich zu albern. »Alices Vater hat den Hund rausgelassen«, sage ich. Meine Stimme klingt schon fast wieder normal.
Alice lacht. »Du weißt aber schon, dass Bobby Brown ein Zwergdackel ist?«
»Na und?«, erwidere ich schnippisch. »Es werden mehr Menschen vom Dackel gebissen als von einem Rottweiler oder einem Dobermann.«
»Ja«, kichert Alice, »aber das hat auch andere Auswirkungen.«
»Euer Dackel heißt Bobby Brown?«, fragt Niki, als hätten wir keine anderen Sorgen.
»Ja, nach einem Song von Zappa. Aber wir nennen ihn nur B. B., das ist kürzer.«
Aha.
Das Gespräch dreht sich weiter um Hunde und Namen und Hundenamen, während wir zurück in die wirkliche Welt steigen. Mein Herz hat sich beruhigt, meine Phantasie noch nicht ganz. Ich schaudere. Denke zwar nicht mehr an den toten Niki im Flur, dafür aber an einen anderen, nicht weniger angsteinflößenden Geist: den Geist hinter Nikis Augen.
»Nein, das kann nicht sein.« Niki schüttelt energisch den Kopf. »Geister können nichts anfassen, nichts bewegen. Und außerdem sind es ja auch keine Geister. Es sind tote Menschen. Verstorbene, wenn du so willst.«
Nun, das ist ja mal tröstlich! »Und wie erklärst du dir das mit den Büchern?«
»Gar nicht. Bücher fallen eben mal um, ebenso wie Stühle, keine Ahnung was noch. Das ist die Schwerkraft und nichts Unnatürliches.«
Wir gehen den Weg von Alice zurück zu Fuß. Es ist ein schöner Abend, fast schon Sommer, aber ich kann mir immer noch nicht vorstellen, bald draußen zu sitzen, Eis zu essen, zu träumen. Was Nettes zu träumen.
»Und Erscheinungen? Können sie Erscheinungen heraufbeschwören?«
»Was meinst du?«
Ich meine natürlich den toten Niki mit den weißen Augen. Das war so … so plastisch, so etwas hätte ich mir gar nicht ausdenken können. Nein, mir kommt es vielmehr so vor, als sei das eine mentale Sperre oder so gewesen. Ein Versuch, mich am Betreten des Zimmers zu hindern. Also sage ich: »Erscheinungen, die dich abhalten sollen, einen Raum zu betreten. Ich habe da etwas gesehen, etwas im Flur … Oder mir nur eingebildet«, füge ich rasch hinzu, denn »gesehen« ist vielleicht übertrieben: Es wurde mir im wahrsten Sinne des Wortes »vorgestellt«.
»Und was war das genau?« Niki sieht mich neugierig an.
»Nun …« Ich schüttele den Kopf. »Nicht wichtig.« Ich will es vergessen, nicht auch noch in allen Einzelheiten beschreiben, damit es sich auch ja in mein Gedächtnis brennen kann.
»Nein«, sagt Niki energisch, »so etwas gibt es nicht. Das habe ich noch nie erlebt.«
Ich schweige zweifelnd.
»Julia«, sagt Niki und bleibt stehen. »Ich mache das nicht zum ersten Mal, glaub mir. Und das, was ich Alice sagen sollte, war auch nur etwas Schönes, Tröstliches über ihre Mutter. Ich würde das sonst nicht tun.«
Wieder nicke ich. Jetzt, an der warmen, streichelnden Luft bin ich nur allzu bereit, nicht an bücherumwerfende Geister mit bösen Augen zu glauben. Ach ja, Geister sind es ja auch nicht. Es sind ja »nur« Tote. Und apropos Tote: Wieder ist ein Tag verstrichen, an dem ich Opa nichts gefragt habe.
Und ausgerechnet morgen kann ich nicht. »Aber Sonntag«, verabrede ich mit Niki.
»Ist gut. Dann Sonntag.« Er nickt. Wusste natürlich schon, dass die Beerdigung verschoben worden war, auch wenn er den Grund dafür nicht kennt. Dass wir noch diesen einen Tag Zeit haben.
»Falls nicht wieder etwas dazwischenkommt«, sage ich.
»Was soll denn dazwischenkommen?«
»Was weiß ich? Noch mehr tote Leute, die mit Büchern werfen wollen?«
»Ich sagte doch gerade …«
»Schon gut, schon gut.« Ich winke ab. »Vielleicht gibt es ja auch welche, die Stühle bevorzugen.«
Niki schüttelt den Kopf und grinst. »Du gibst wohl nie auf, was?«
»Nur, wenn ich es nicht vermeiden kann.« Wir laufen eine Weile schweigend nebeneinander her. Irgendetwas beschäftigt mich. Etwas, dass Niki gerade erwähnt hat … »Du hättest Alice nichts gesagt, wenn es nicht nett gewesen wäre? Ich meine, du hättest sie nicht beschimpft oder so, wenn der Gei..., wenn die Tote es gewollt hätte?«
»Nein, hätte ich nicht. Ich muss nicht einfach alles tun, was sie verlangen.« Niki lächelt mich von der Seite her an. »Wir hatten mal einen Autoverkäufer.
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