Zwischen Ewig und Jetzt
denn?«, will ich wissen.
Felix sieht auf. Er hat länger als Niki und ich zusammengenommen im Badezimmer gebraucht, um seine perfekt ausgewogene Wuschelfrisur hinzubekommen, die ihm allerdings auch wahnsinnig gut steht. Seine Bräune lässt langsam nach, doch noch immer betont sie seine graublauen Augen. Die traurig aussehen. »Weißt du, was ich wirklich hasse, Julia?«
Ich schüttele nur den Kopf, weil meine Kehle wie zugeschnürt ist.
»Dass du mich immer zwingst, dir zuzuhören, wenn du ›wir‹ sagst und dabei nie, oder ganz selten nur,
uns
damit meinst.«
Das stimmt nicht, will ich sagen, tue es aber nicht. »Komm bitte mit«, sage ich stattdessen und greife nach seiner Hand.
Er zieht sie nicht weg. Nimmt stattdessen nur meine hoch, betrachtet sie, legt seine andere Hand darum. »Ich wünschte, ich hätte dich für mich allein«, sagt er. »Das wünsche ich mir mehr als alles andere auf der Welt.«
»Das hast du«, sage ich. Mehr oder weniger.
»Und ich wünschte«, und dabei sieht er mir in die Augen, »ich könnte dir das glauben.«
Die Uniklinik ist kein Gebäude, sondern eine Stadt. Wir brauchen ewig, bis wir die richtige Treppe ins Untergeschoss finden, und noch mal so lange, bis wir an
HNO I – IV
und
HNO -Röntgen – nur für Fachpersonal
vorbei sind.
Zentrum Pathologie, Forensik und Genetik
, da steht’s. Kein Verbotsschild oder so. Die Abteilung sieht aus wie jede andere, vielleicht ein bisschen verlassener: Ein langer Flur erstreckt sich vor uns, von dem eine Menge Türen abgehen. Es riecht nicht so streng wie oben. Neben jeder Tür steht ein oder mehrere Namen und darunter Begriffe wie
Zytopathologisches Labor
oder
Histopathologische Schneideeinheit
. Wir setzen uns neben die
Tumorbank
. Nicht, weil wir das so ansprechend finden, sondern weil hier die einzigen Stühle stehen.
Eine Ärztin oder Schwester kommt mit fliegenden Kittelschürzen auf uns zu, betrachtet uns neugierig, geht aber weiter. Wir blicken ihr nach, bis sie um die Ecke ist.
»Also, was ist?«, fragt Felix. »Fang schon an.« Er hat auf dem Weg hierher nicht viel gesprochen, nicht meine Hand genommen, gar nichts. Wenn Niki dabei ist, stört mich das nicht, im Gegenteil. Aber es stört mich, wie Felix meinem Blick ausweicht.
»Das ist schwierig«, murmelt Niki. »Die Stimme dreht gerade so richtig auf.«
»Soll ich weggehen?«, frage ich.
»Besser wär’s.«
Gut, dass ich so etwas nicht persönlich nehme. Ich stehe also auf und gehe ans Ende des Korridors. Immerhin folgt Felix mir. Er stellt sich hinter mich, ohne mich zu berühren, und mein Herz sackt mir in die Hose. Ich will etwas sagen, aber ich weiß nicht was. Also beobachten wir nur Niki, der mit geschlossenen Augen an der Wand lehnt.
Es ist ruhig. Keine Ahnung, ob Niki die Toten ruft, oder so: Zu sehen und zu hören ist nichts. Allerdings verdichtet sich die Atmosphäre, anders kann ich es nicht erklären. Es ist wie damals bei Alice im Keller oder bei meinem Opa: Der Druck auf den Ohren nimmt zu.
»Was immer auch passiert«, raunt Felix mir zu, »du fasst ihn nicht an.«
»Das ist doch albern«, erwidere ich, ohne die Augen von Niki zu lassen.
»Du willst es nicht wissen. Wirklich nicht«, sagt Felix dicht an meinem Ohr.
»Ich weiß es aber, weiß, dass er mit Toten spricht. Ich glaube ihm doch«, erkläre ich.
»Du glaubst ihm, sagen wir mal, zu achtzig Prozent. Das ist alles, was du aufbieten kannst. Die restlichen zwanzig Prozent Skepsis sind gesunder Menschenverstand. Sie helfen dir, nicht verrückt zu werden. Dass die Welt keine andere wird.« Er schweigt kurz, ich höre ihn einatmen. »Wenn du ihn anfasst, während er das tut, ändert sich das. Er teilt das mit dir. Du weißt hundert Prozent, dass er recht hat, und glaub mir bitte, Julia: Das willst du nicht. Du willst nicht in einer Welt wohnen, in der dich Geister umgeben.«
Darüber muss ich kurz nachdenken. Er hat recht. Schon der Gedanke, dass ein Geist an mir dran ist, macht mir Angst. Dass überall um uns herum Tote sind: Daran will ich nicht mal denken. »Du hast ihm hundert Prozent geglaubt?«
»Ich hatte keine Wahl. Er hat mir ja keine gelassen. Aber ich war noch ein Kind: Ich konnte mir einreden, dass das alles nur Spinnerei ist. Ich konnte mir einreden, dass
er
ein Spinner ist.«
»Und den anderen auch«, flüstere ich.
»Es hieß er oder ich. Ich hatte keine Wahl. Ich habe bis heute gebraucht, um mir diese zwanzig Prozent zurückzuholen.«
Ich nicke nur, sage nichts
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