Zwischen jetzt und immer
hatte bereits den zweiten Bissen im Mund und wollte ihm gerade begeistert zustimmen, da fiel mir etwas ein und ich musste unwillkürlich lächeln.
»Was ist?«, fragte Wes.
Ich blickte auf meinen Teller. »Witzig, deine Bemerkung gerade; erinnert mich an etwas, das mein Vater immer gesagt hat.«
Wes steckte sich ein Stück Waffel in den Mund und wartete, dass ich weitersprach.
»Obwohl meine Mutter immer fand, wir sollten, und Schuldgefühle hatte, weil wir’s nicht taten, gingen wir nie zur Kirche«, erzählte ich. »Mein Vater liebte es einfach zu sehr, sonntags ausgiebig zu frühstücken. Er machte eigenhändig das Frühstück, immer sehr aufwändig, und meinte dann jedes Mal, das sei eben seine Form von Gottesdienst und die Küche seine Kirche. Die Opfergaben, das waren Eier und Speck und Muffins und . . .«
»Waffeln«, vollendete Wes meinen Satz.
Ich nickte und spürte, wie sich in meinem Hals ein Kloß festsetzte. Jetzt bloß nicht anfangen zu heulen, dachte ich, hier vor allen Leuten in dieser grell erleuchteten Fernfahrerraststätte mit Tammy Wynette im Hintergrund (ja, die Jukebox dudelte wieder munter vor sich hin). Doch als mirbewusst wurde, dass mein Vater dieses Lokal geliebt hätte, sogar inklusive Tammy Wynette, wurde der Kloß prompt noch größer.
»Das allererste Mal bin ich mit meiner Mutter hergekommen«, sagte Wes unvermittelt und spießte ein Stück Waffel mit der Gabel auf. »Auf dem Rückweg von meiner Oma, die in Greensboro wohnt, haben wir jedes Mal hier angehalten. Das war ein echtes Ritual, sogar während ihrer Gesundheitsfraß-Phase. Hier haute sie immer richtig rein, egal wie ungesund es war. Sie bestellte meistens die belgischen Waffeln mit Erdbeeren und Schlagsahne und verputzte sie bis zum letzten Krümel. Den Rest des Wegs nach Hause beschwerte sie sich dann, wie schlecht ihr sei.«
Ich lächelte und trank einen Schluck Wasser. Der Kloß löste sich allmählich auf. »Ist es nicht seltsam, wie und an was man sich erinnert, wenn jemand nicht mehr da ist?«
»Was meinst du damit genau?«
Ich aß noch ein Stück Waffel. »In der ersten Zeit, nachdem mein Vater gestorben war, konnte ich mich an überhaupt nichts mehr erinnern, nur noch an den Tag selbst. Ich habe ewig gebraucht, bis ich überhaupt wieder an die Zeit davor denken konnte.«
Noch bevor ich den Satz vollendet hatte, fing Wes an zu nicken. »Wenn jemand über lange Zeit krank ist, ist das noch viel schlimmer«, meinte er. »Man vergisst, dass dieser Mensch auch mal gesund war, dass es ihm gut ging. Es kommt einem so vor, als hätte man nie eine Zeit erlebt, wo man nicht permanent mit der nächsten Horrormeldung rechnen musste.«
»Aber es gibt diese Zeiten«, antwortete ich. »Allerdings erinnere ich mich erst seit ein paar Monaten wieder daran.An alles Schöne, was ich mit meinem Vater zusammen erlebt habe. Wie viel wir gelacht haben. Und ich fasse es nicht, dass ich es vorübergehend vergessen hatte.«
»Du hattest es nicht vergessen.« Wes trank einen Schluck Wasser. »Du konntest dich in dem Moment bloß nicht mehr daran erinnern. Aber jetzt bist du offen dafür, deshalb kannst du es auch wieder.«
Während ich meine Waffel aufaß, dachte ich über seine letzte Bemerkung nach. »Ich glaube, es fiel mir auch deshalb so schwer, mich zu erinnern, weil meine Mutter nach dem Tod meines Vaters so einigermaßen durchdrehte und alles wegwarf, was ihr vor die Nase kam. Sie hat so gründlich ausgemistet, dass am Ende von den alten Sachen nichts mehr da war. Irgendwie galt das auch für ihn. Fast so, als wäre er ebenfalls nie da gewesen.«
»Bei mir zu Hause ist es genau umgekehrt«, sagte Wes. »Meine Mutter ist im Prinzip noch überall präsent. Delia hat zwar viele ihrer Klamotten in Kartons gepackt, aber sie brachte es einfach nicht übers Herz, alles wegzuräumen. An der Garderobe im Flur hängt immer noch einer ihrer Mäntel. Neben dem Rasenmäher in der Garage steht nach wie vor ein Paar Gummistiefel von ihr. Und es vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht eine Liste wiederfinde, bis heute. Sie sind einfach überall.«
»Liste?«
»Ja.« Mit einem leichten Lächeln senkte Wes den Kopf, blickte versonnen auf die Tischplatte. »Meine Mutter war ein richtiger Kontrollfreak und hat für alles Listen geschrieben: Was sie am nächsten Tag zu tun hatte, was sie in diesem Jahr noch schaffen wollte, was sie einkaufen und wen sie zurückrufen musste. Doch wenn sie mit einer Liste fertig war, verschmiss sie den Zettel
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