Zwischen jetzt und immer
herandrängen, der darin herumspazierte, um ihn festzuhalten.
Vor mir schimmerte etwas im Mondschein, das sich mitten auf einer kleinen Lichtung befand, eingerahmt von Kletterrosen, deren Blüten im Nachtwind leise wippten. Ich trat durch eine Öffnung in der Rosenhecke und stand vor beziehungsweise hinter einer Skulptur. Eine Frauengestalt. Die Arme hielt sie weit ausgestreckt, die Handflächen wiesen gen Himmel; über ihre Handflächen hingen dünne, biegsame Rohre herab, deren Enden sich in sanften Wellen nach unten bogen. Ich stellte mich so, dass ich die Figur von vorn betrachten konnte. Als ich meinen Kopf etwas in den Nacken legte, um besser an ihr hochschauen zu können, sah ich, dass auch der Kopf mit ähnlich dünnen, in sich verdrehten Rohren bedeckt und von einer Art Kranz aus demselben Material gekrönt war. Natürlich handelte es sich um eine von Wes’ Skulpturen, so viel stand auf den ersten Blick fest. Dennoch war irgendetwas anders als sonst. Was das war, kapierte ich allerdings erst, als ich merkte, dass an jedem einzelnen Rohr, sowohl an denen auf dem Kopf als auch an den Händen, ja selbst an den Rohren, welche die Haare darstellten, ein Dichtungsring befestigt war, in dem wiederum ein kleines Stück Metall steckte. Blumen! Jedes Rohr stellte eine Blume dar. Noch einmal wanderten meine Augen von oben bis unten über die gesamte Statue, von dem Geflecht an ihrem Kopf, in dem das Mondlicht glänzte, bis zu den Füßen, mit denen die Figur fest auf dem Boden stand. Und endlich begriff ich, dass es sich um Stella handelte.Eine Skulptur, die symbolisierte, was Stella tat: aus dem dicken, lehmigen Boden durch die Arbeit ihrer Hände Blume für Blume, Blüte für Blüte zu zaubern.
»Macy?«
So sehr hatte ich mich in meinem Leben noch nicht erschreckt. Und wer mich da erschreckte, hatte es noch nie so raffiniert eingefädelt. Es war die ultimative Erschreck-Aktion. Nur zu verständlich also, dass mein Herz einen Riesensatz machte und ich laut aufschrie, und zwar gleich zweimal. Denn ein paar Spatzen, die mein Erschrecken erschreckt hatte, flatterten so unvermittelt vom Fuß der Skulptur auf, dass ich gleich noch einmal erschrak mit allem Drum und Dran. Aufgeregt zwitschernd flogen die Spatzen zwischen den Rosenbüschen umher und entschwanden schließlich in die Dunkelheit.
»Ups«, sagte ich und schluckte hart. »Du meine Güte!«
»Wow«, meinte Wes. Er stand, die Hände in den Hosentaschen, am Rand des Gartenwegs. »Du hast geschrien wie in einem Horrorfilm.«
»Du hast mich ja auch zu Tode erschreckt!«, antwortete ich. »Was schleichst du nachts hier draußen im Dunkeln herum und lauerst nichts ahnenden Spaziergängern auf?«
»Ich bin weder rumgeschlichen noch habe ich dir aufgelauert«, entgegnete er. »Seit du auf die Lichtung gekommen bist, habe ich versucht dich anzusprechen. Was meinst du, wie oft ich dich gerufen habe?«
»Hast du nicht.«
»Doch, ehrlich.«
»Stimmt nicht«, hielt ich dagegen. »Du hast dich klammheimlich an mich rangeschlichen, um mich absichtlich zu erschrecken. Und das ist dir gelungen, du kannst also zufrieden sein.«
»Nein«, antwortete er bedächtig, als wäre ich ein Kleinkind, das einen total ungerechtfertigten Tobsuchtsanfall hatte. »Ich wollte gerade los, da sah ich, wie du deine Tasche in dein Auto gelegt hast. Ich habe dich gerufen, aber du hast mich einfach nicht gehört.«
Ich blickte zu Boden. Mein Herz schlug allmählich wieder etwas langsamer. Wind kam auf. Die Blumen hinter Wes neigten sich mal in die eine, mal in die andere Richtung. Über mir hörte ich ein Surren. Ich blickte auf. Je stärker der Wind blies, umso mehr drehten sich die Blumen in der Hand der Figur, schneller und immer schneller. Auch der Kranz auf ihrem Kopf setzte sich wie ein Karussell in Bewegung.
Wes und ich sahen dem Tanz der Skulptur gemeinsam zu, bis der Wind wieder nachließ. »Echt, du hast mich total erschreckt«, wiederholte ich überflüssigerweise. Mittlerweile war es mir nur noch peinlich.
»Das wollte ich nicht.«
»Weiß ich.«
Alles beruhigte sich nach und nach: mein Herz, die Blumen in den Händen der Figur und in dem Kranz auf ihrem Kopf, sogar die Spatzen, die sich in Scharen auf der Rosenhecke hinter mir niedergelassen hatten und darauf warteten, endlich wieder nach Hause zu können. Den Gefallen tat ich ihnen gern und verließ die Lichtung. Wes bog einen Zweig beiseite, damit ich leichter durch die Hecke zu ihm auf den Gartenweg treten
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