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Zwischen jetzt und immer

Zwischen jetzt und immer

Titel: Zwischen jetzt und immer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Dessen
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vorsichtshalber im Auge.
    »Mama!« Ich stand in der Tür zu ihrem Büro, wollte ihr das Hühnersandwich bringen, das ich vor einer halben Ewigkeit für sie bestellt hatte. Es war nämlich bereits halb drei, das heißt, das Sandwich lag seit fast drei Stunden auf meinem Schreibtisch und gammelte vor sich hin. Auf jeden Fall wurde es nicht besser und die Mayonnaise garantiert bald schlecht. »Mama, du musst etwas essen. Jetzt!«
    »Danke, mein Schatz.« Sie griff nach ein paar Telefonnotizen, um sie zu sichten. »Leg’s bitte da drüben hin, ich esse gleich einen Happen. Nur noch ein Anruf.« Sie griff zum Telefonhörer.
    Ich trat ins Zimmer. Sie tippte wie eine Rasende, während sie gleichzeitig telefonierte. Ich holte das Sandwich aus der Tüte und arrangierte es so appetitlich wie möglich auf einem Pappteller. Meine Mutter redete gerade mit einem Herrn, der sich Rathka nannte. Rathka war der Koch, den sie für ihre Gala engagiert hatte und der ihr mehrfach wärmstens emfohlen worden war. Trotzdem waren meine Mutter und Rathka schon mehrere Male heftig aneinander geraten, weil er erstens fast nie zu erreichen war (anscheinend ging er so gut wie gar nicht ans Telefon), zweitens darauf bestand, dass sie sündhaft teures Porzellan für sein Essen anmietete (sonst kämen die Gäste nicht in den vollen Genuss der herausragenden kulinarischen Erfahrung), und drittens wegen des Menüs, denn Rathka wollte ihr partout nicht verraten, was er eigentlich zu kochen gedachte.
    »Damit meine ich Folgendes«, sagte meine Mutter gerade ins Telefon, während ich eine Dose Cola Light öffnete, ein Glas einschenkte und neben den Pappteller stellte. »Dies ist eine äußerst wichtige Veranstaltung für mich, zu der ich fünfundsiebzig Leute einlade. Ist es da wirklich zu viel verlangt, wenn ich Sie darum bitte, mir ein paar Einzelheiten über das Menü mitzuteilen?«
    Ich faltete eine Serviette, schob sie unter den Rand des Papptellers und dann beides zusammen näher an ihren Ellbogen heran. Doch erst als der Pappteller ihren Arm berührte, merkte sie überhaupt, was ich tat, und blickte kurz auf. Ihre Lippen formten ein lautloses Danke, ohne dass sie dasTelefonat für eine Sekunde unterbrach. Das Sandwich ignorierte sie weiterhin, trank bloß einen Schluck von der Cola. Immerhin.
    »Ja, dass es Lamm geben wird, habe ich begriffen.« Sie verdrehte entnervt die Augen. In letzter Zeit schien meine Mutter eigentlich nur noch zu kämpfen, mit jedem, gegen jeden, wegen jeder Kleinigkeit. »Aber ein Menü besteht doch nicht nur aus Lamm . . . ich meine, ich hätte gern ein wenig genauer gewusst, was Sie im Einzelnen servieren wollen.« Pause. »Ich verstehe. Sie sind ein Künstler, Rathka. Aber ich bin Geschäftsfrau. Und ich wüsste gern, wofür ich mein Geld ausgebe.«
    Ich kehrte an meinen Schreibtisch zurück, setzte mich, drehte mich ein bisschen auf meinem Stuhl hin und her und gab ein paar Befehle über die Tastatur ein, um meine E-Mails abzurufen. Seit ich für meine Mutter arbeitete, hatte ich zwar tausendmal mehr zu tun als in der Bibliothek; trotzdem gab es dazwischen auch immer mal wieder Zeiten, in denen nichts los war. Und jedes Mal wenn ich in solchen Momenten meine E-Mails checkte, schien gerade wieder eine von Jason gekommen zu sein.
    An dem Abend, als ich Wes das letzte Mal gesehen hatte, flimmerte bei meiner Rückkehr nach Hause Jasons E-Mail noch auf meinem Bildschirm. Im ersten Moment hätte ich sie fast gelöscht und ignoriert. Doch aus irgendeinem Grund tat ich es nicht. Ich saß vor dem PC, meine Finger schwebten schreibbereit über den Tasten. Zu diesem Leben gezwungen zu werden war eine Sache. Es zu wählen eine ganz andere. Aus irgendeinem Grund bildete ich mir plötzlich ein, eine gewisse Wahl zu haben. Auch wenn es gar keine Alternativen gab. Trotzdem.
    Also schrieb ich an Jason. Schrieb, dass ich den Job in derBibliothek gehasst hätte, dass er nicht das Richtige für mich gewesen sei und ich vermutlich gleich hätte gehen sollen statt so lange durchzuhalten. Ich schrieb ihm, wie sehr mich seine Mail, in der er die vorübergehende Trennung vorschlug, verletzt habe. Und dass ich nicht wisse, was ich davon halten solle, wenn wir am Ende der Sommerferien   – oder überhaupt   – wieder zusammenkommen würden. Aber ich schrieb ihm auch, das mit seiner Großmutter tue mir sehr Leid und dass ich für ihn da sein würde, wenn er jemanden zum Reden brauche. Das war das Mindeste, was ich tun konnte, fand ich. Ich

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