Zwischen jetzt und immer
saß an demselben Tisch beim Fenster, an dem er mit mir gesessen hatte. Und er war nicht allein.
Buh!
, dachte ich. Und fühlte mich eigenartigerweise exakt so, als hätte Wes mich tatsächlich gerade zu Todeerschreckt: der Schock, das Herzrasen . . . Als würde das gesamte Betriebssystem abstürzen und dann langsam – während man selbst noch dasteht und nach Luft ringt – wieder hochfahren.
Ich wusste nicht viel von Becky, erkannte sie jedoch auf den ersten Blick, denn sie sah genauso aus, wie Wes sie beschrieben hatte: dünn, eckig, kurze Haare, die ihr gerade bis zu den Schultern reichten. Sie trug ein dünnes Spaghettiträgerhemdchen, einen Rosenkranz um den Hals und dunkelroten Lippenstift, der bereits den Rand des Kaffeebechers verschmiert hatte, den sie mit beiden Händen hielt. Wes saß ihr gegenüber und redete; sie sah ihn unverwandt an, hörte aufmerksam zu, als gäbe es nichts Wichtigeres auf der Welt als das, was er sagte. Vielleicht stimmte das sogar. Vielleicht enthüllte er ihr gerade seine tiefsten Geheimnisse. Oder stellte ihr die Frage, auf die ich so lange gewartet hatte. Ich würde es niemals erfahren.
Ich kehrte zu meinem Wagen zurück, stieg ein, ließ den Motor an, fuhr los. Erst als ich auf die Hauptstraße einbog, wurde mir in aller Klarheit bewusst, wie flüchtig unsere Freundschaft gewesen war. Beide waren wir mit wem zusammen gewesen und irgendwie auch nicht beziehungsweise irgendwo dazwischen. Doch im Grunde waren nicht unsere Beziehungen vorübergehend in einer Warteschleife gewesen, sondern wir. Wir standen still, wir hatten Pause – nicht aber unsere Beziehungen. Und jetzt bewegten wir uns wieder. Bewegten uns weiter. Bewegten uns auseinander. Einige Fragen blieben unbeantwortet. Na und? Das Leben ging weiter. Wenn jemand Erfahrung damit hatte, dann wir.
Kapitel 18
Zuerst hatte meine Mutter sich meinetwegen Sorgen gemacht. Jetzt war ich dran. Und zwar ihretwegen.
Meine Mutter hatte schon immer viel gearbeitet. Aber so hatte ich sie noch nie erlebt. Vielleicht lag es ja auch daran, dass ich inzwischen fast den ganzen Tag mit ihr verbrachte, sechs, sieben Stunden am Stück, und alles mitbekam: die Dauertelefonate, ihr rasendes Tippen, wenn sie E-Mails beantwortete, den unaufhörlichen Strom von Leuten, die zu ihr reinpilgerten und was von ihr wollten – Makler, Handwerker, Vertreter, Kunden. Es herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Es war der dreiundzwanzigste Juli und in gut zwei Wochen war es so weit: Ihr Villenkomplex würde mit der Riesengala, die sie seit langem plante, eröffnet werden. Alle Welt glaubte, das Projekt liefe prima, aber meine Mutter war unzufrieden mit den bisherigen Verkaufszahlen; oder die Badewannen aus Marmor waren noch nicht alle installiert; oder der eine oder andere Handwerker brachte sie um den Verstand, weil er ihrer Meinung nach lieber ausschlief oder sonntags auch mal freinahm, anstatt pünktlich oder – noch besser – vor dem vereinbarten Termin fertig zu werden und perfekte Arbeit zu liefern. Mir war ja schon seit längerem aufgefallen, wie erschöpft sie immer wirkte. Und dass sie kaum noch lächelte. Doch allmählichwurde mir klar, dass es schlechter um sie stand, als ich vermutet hatte.
Vielleicht hätte ich früher etwas merken müssen, aber ich hatte schließlich meine eigenen Probleme. Nur eines hatte sich seit der Sache mit Wes erledigt: Ich hatte mich mit meiner Strafe abgefunden. Es fiel mir komischerweise überhaupt nicht schwer, wieder in mein altes Leben hineinzugleiten, nachdem das mit Wes und mir endgültig vorbei war (als ob da je was gewesen wäre). Allmählich vergaß ich das Mädchen, das ich zwischendurch gewesen war. Vergaß die Macy, die nicht mehr so viel Angst gehabt hatte, ja die geradezu mutig gewesen war.
Mein Leben verlief in ruhigen, ordentlichen, schweigsamen Bahnen. Der Alltag meiner Mutter dagegen bestand aus nichts als Hektik und Stress. Sie schien immer schmaler zu werden und überhaupt nicht mehr zu schlafen, und obwohl sie sich jeden Morgen sorgfältig schminkte und jede Menge Abdeckstift benutzte, waren die dunklen Ränder unter ihren Augen deutlich zu erkennen. Immer häufiger ertappte ich mich dabei, dass ich sie heimlich beobachtete und mich fragte, welchen Preis sie für den Stress zahlte, den sie sich aufbürdete. Und wie ihr Körper wohl auf die Dauerbelastung reagieren würde. Manchmal gibt es Anzeichen für so was, manchmal nicht. Auf jeden Fall behielt ich sie
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