Zwischen jetzt und immer
vergessen der Geruch, der über diesem Wundergarten schwebte: Früchte und Blumen, frisch aufgeworfene Erde und Regenwürmer. Dieser Geruch warf einen fast um, so irrsinnig schön war er, und ich ertappte mich dabei, wie ich einfach nur den Duft einatmete. Selbst als wir schon längst im Hexenhäuschen waren, hatte ich ihn noch deutlich in der Nase.
Kristy befestigte den nächsten Lockenwickler mit einer Haarklammer und strich mir mit der Hand eine Strähne aus dem Gesicht.
»Ich bin eigentlich gar nicht der Typ, dem toupiertes Haar oder eine wilde Mähne so gut stehen«, sagte ich skeptisch.
»Ich auch nicht.« Kristy schnappte sich den nächsten Lockenwickler. »Aber dein Haar wird nicht toupiert, bloß ein bisschen wellig. Vertrau mir einfach, okay? Was Haare angeht, bin ich echt Expertin. Ich war mal kahl, musst du wissen, und in der Zeit war ich von Haaren und Frisuren geradezu besessen.«
Weil sie hinter mir stand und mit den Lockenwicklern rumfummelte, konnte ich sie nicht sehen und wusste deshalb nicht, ob sie ein ernstes Gesicht machte oder ein lässiges oder was. Ich warf einen Blick zu Monica rüber, dieallerdings durch eine Zeitschrift blätterte und nicht mal zuhörte. Schließlich nahm ich meinen Mut zusammen: »Du warst mal kahl?«
»Ja, mit zwölf. Ich musste ein paar Mal operiert werden, unter anderem am Hinterkopf, deshalb haben sie mir den Schädel rasiert.« Wieder strich sie einige lose Strähnen weg, die in meinem Gesicht herumflogen. »Ich hatte einen Autounfall, daher auch die Narben.«
»Ach so.« Plötzlich hatte ich Angst, ich hätte ihre Narben vielleicht mal wieder zu offensichtlich angestarrt und sie dadurch erst auf das Thema gebracht. »Ich wollte nicht . . .«
»Ich weiß,« meinte sie in lockerem Ton, als würde es ihr wirklich nichts ausmachen, darüber zu sprechen. »Trotzdem ist es schwer,
nicht
hinzuschauen, was? Normalerweise werde ich sofort gefragt, woher ich die Narben habe, aber du hast nie einen Ton gesagt. Allerdings dachte ich mir, dass du dich schon gewundert hast, wie ich zu den Dingern gekommen bin. Du würdest dich wundern, wie viele Leute mich ganz direkt darauf ansprechen. So als würden sie sich erkundigen, wie spät es ist oder so was.«
»Ich finde das ziemlich dreist«, meinte ich.
»Mmm-hmmm.« Das kam von Monica und klang zustimmend. Wie zur Bestätigung drückte sie ihre Kippe am Fensterbrett aus.
Kristy dagegen zuckte die Schultern. »Irgendwie ist es mir sogar lieber so. Ich meine, es ist auf jeden Fall besser, als wenn mich jemand anstarrt, dabei aber so tut, als würde er gar nicht hingucken. Kinder sind in der Beziehung am besten drauf. Sie schauen mich an und fragen: ›Was ist mit deinem Gesicht los?‹ Das gefällt mir. Raus damit. Karten auf den Tisch. Ich kann die Narben ja sowieso nicht verstecken.Deswegen stehe ich auch auf auffällige Klamotten. Die Leute starren mich so oder so an, da kann ich ihnen auch gleich was bieten, verstehst du?«
Ich nickte. Aber so ganz verstand ich es noch nicht.
»Jedenfalls ist es passiert, als ich zwölf war.« Kristy applizierte den nächsten Lockenwickler. »Meine Mutter fuhr mich mal wieder sturzbesoffen zur Schule. Sie kam von der Straße ab, stieß erst mit einem Zaun und danach noch mit einem Baum zusammen. Die mussten mich aus dem Auto rausschneiden. Monica hatte an dem Tag schlauerweise Windpocken, so dass sie erst gar nicht mitgefahren war.«
»Hör bloß auf«, sagte Monica.
»Sie hat Schuldgefühle«, erklärte Kristy. »Schwesterndynamik nennt man so was.«
Ich warf einen Blick zu Monica rüber. Sie musterte ihre Fingernägel mit demselben gleichmütigen Gesichtsausdruck, den sie eigentlich immer draufhatte. Für mein Gefühl hatte sie kein besonders schlechtes Gewissen oder so was; aber im Grunde kannte ich sie gar nicht anders als mit diesem einen Gesichtsausdruck. So sah sie eigentlich immer aus – eine Mischung aus gleichgültig und müde. Möglicherweise war es wie bei einem Rorschach-Test, bei dem man Tintenkleckse vorgelegt bekommt und deuten soll: In Monicas Gesicht sah man genau das, was man gerade sehen wollte.
»Außer den Narben in meinem Gesicht habe ich auch noch eine an der Wirbelsäule von meiner Rücken-OP und eine ziemlich fiese am Hintern; von da haben sie mir nämlich Haut transplantiert. Auf meinem Kopf sind auch noch ein paar Narben, aber die kann man nicht mehr sehen, seit das Haar nachgewachsen ist.«
»Klingt, als wäre es der reinste Horror gewesen«,
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