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Zwischen jetzt und immer

Zwischen jetzt und immer

Titel: Zwischen jetzt und immer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Dessen
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leicht vor sich hin wippte. Verblüfft starrte ich sie an: Ich hatte mich bereits verändert, minimal zwar, aber diese Spirallocke war ein untrügliches Zeichen dafür.
    Trotzdem würde ich von hier verschwinden. Auf jeden Fall.
    Ein Blick auf die Uhr: Viertel nach sechs. Wenn ich jetzt sofort losfuhr, war ich so rechtzeitig wieder zu Hause, als hätte ich gar nicht erst versucht von meinem gewohntenTagesablauf abzuweichen. Ich würde Kristy einfach erzählen, meine Mutter habe in der Zwischenzeit auf meinem Handy angerufen, weil sie irgendwas von mir wollte, tut mir Leid, ehrlich, vielleicht ein andermal, aber ich muss los.
    Ich stand auf, zog noch einen Lockenwickler raus, dann noch einen und noch einen, ließ sie nacheinander aufs Bett fallen, schnappte mir meine Tasche und war schon fast zur Tür raus, als Kristy mit einer kleinen Dose zurückkam.
    »Das Zeug ist Spitze«, verkündete sie. »Man sieht im Handumdrehen so aus, als hätte man sich schön lang in der Sonne geaalt, und   –«
    »Mir ist gerade eingefallen . . .« Ich begann sofort mit meinen Ausreden. »Also, ich glaube wirklich   –«
    Sie sah mich an, ihre Augen wurden immer größer. Schließlich unterbrach sie mich: »Ja, du hast vollkommen Recht.« Ein bekräftigendes Nicken. »Mir war es gar nicht so klar, aber doch, ja, ich finde es so auch viel besser.«
    »Was?«
    »Na, deine Haare.« Sie betrat das Zimmer. Ich ging unwillkürlich rückwärts vor ihr her, bis ich mit den Kniekehlen an die Bettkante stieß. An mir vorbei angelte Kristy sich ein weißes Hemd, das auf den Kissen lag, und streifte es mir über, bevor ich auch nur den Mund aufmachen konnte, um sie zu bremsen. Aber ich hätte ohnehin nicht protestieren können, dazu war ich zu abgelenkt, denn:
    »Meine Haare?«
    Kristy verknotete die beiden Zipfel des Hemdes lose vor meinem Bauch.
    »Was ist mit meinen Haaren?«
    Sie hob beide Arme und kämmte mit gespreizten Fingern durch meine wild gelockte Mähne. »Ich wollte alles ausbürsten,für einen welligen Look, aber du hast Recht, so sieht es viel besser aus, so zerzaust und wuschelig. Eins a, wirklich. Aber schau’s dir selbst an!«
    Sie lief zum Kleiderschrank, schloss die Tür. Und ich sah   – mich.
    Ja, die Jeans waren verwaschen und zerschlissen, das Herz auf dem Knie hingekleckst und viel zu schwarz. Aber sie passten mir super, es hätten wirklich meine sein können. Das Spaghettiträgertop, das im Licht der Deckenlampe funkelte und glitzerte, war eindeutig zu schrill; aber mit dem weißen Hemd darüber trotzdem okay, weil Funkeln und Glitzern durch das Hemd abgemildert wurden. Die Schuhe, die mir vor dem Anziehen total daneben vorgekommen waren, sahen zusammen mit der Jeans richtig klasse aus; zwischen beidem war der Abstand gerade so groß, dass man ein schmales Stück Knöchel sah. Und meine Haare? Verschwunden war der schnurgerade Scheitel, den ich jeden Morgen mit großer Mühe und geradezu mathematischer Präzision exakt in der Mitte meines Kopfes platzierte. Stattdessen fielen meine Haare locker über die Schultern, machten mein Gesicht viel weicher. Eigentlich hätte nichts zusammenpassen sollen. Aber irgendwie stimmte jedes Detail.
    »Hab ich’s dir nicht gleich gesagt?« Lächelnd und voller Stolz auf ihr Werk stand Kristy hinter mir, während ich mein Spiegelbild anstarrte und das Vertraute in den Veränderungen suchte. Lauter einzelne Komponenten und Teile, ein Stückchen hier, ein Eckchen da   – und doch ergab sich am Ende ein großes Ganzes, eine abgerundete Erscheinung. Dass aus all diesen Fragmenten etwas entstehen konnte, das tausend Möglichkeiten in sich barg   – es war schon komisch. »Perfekt!«
     
    Für ihr eigenes Styling brauchte Kristy wesentlich mehr Zeit: Retrolook im Stil der Sechziger mit weißen Gogo-Stiefeln, Minirock, pinkfarbener Bluse. Als wir endlich fertig waren und aus der Tür des Hexenhäuschens traten, wartete Bert schon seit fast einer halben Stunde auf uns.
    »Endlich«, meinte er missmutig, als wir uns seinem Krankenwagen näherten. »Ich warte schon seit einer Ewigkeit.«
    »Seit wann sind zwanzig Minuten eine Ewigkeit?«, fragte Kristy unschuldig.
    »Seit man hier festsitzt und auf eine Person warten muss, die egoistisch und undankbar ist und denkt, die ganze Welt dreht sich nur um sie.« Bert drehte die Musik lauter   – eine laute, dramatisch wehklagende Frauenstimme   –, um sicherzugehen, dass jede Replik auf diese Bemerkung von dem Gesülze aus dem Autoradio

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