Zwischen Leidenschaft und Liebe
Dann schlug er mit der Reitpeitsche gegen die Stallwand. »Zur Hölle mit ihnen allen«, dachte er und ging zum Haus.
Die Geheimtür öffnete sich, und Brat kam herein. Sie stellte sich ans Bett und starrte eine Weile auf Claire hinunter. »Du hast dich mit Harry gestritten?«
Claire schniefte. Sie lag auf dem Rücken. »Ich weiß nicht.«
»Harry ist der Ansicht, daß du dich mit ihm gestritten hast. Er ist nach Edinburgh geritten. Er hat nicht einmal gepackt und nur mit seiner Mutter geredet. Er stieg auf sein Pferd und haute ab. Nur fünf Lakaien sind bei ihm. Die anderen sollen mit dem Gepäck später nachkommen.«
Claire weinte wieder. »Er hat einen Rehbock geschossen, und ich habe mich darüber aufgeregt.«
Brat spielte mit den Quasten am Bettpfosten. »Ich glaube nicht, daß Harrys Besuch bei seiner Mutter sehr angenehm verlief.«
»Ich würde mich nicht wundern, wenn er die Verlobung lösen will«, sagte Claire. »Ich war heute schrecklich zu ihm.«
»Vielleicht möchte Harry sie lösen, aber ich glaube nicht, daß unsere Mutter dir erlauben wird, mit Harry zu brechen. Weißt du, wieviel sie bereits eingekauft hat in deinem Namen? Im Namen der neuen Herzogin von MacArran?«
»Ich will es nicht wissen«, sagte Claire.
Brat ging zu der Geheimtür. »Ich muß jetzt gehen. Ich hoffe, du fühlst dich bald besser.« Sie legte eine Pause ein. »Und ich hoffe, du entschließt dich endlich.«
»Zu was?«
Brat antwortete nicht darauf, sah ihre Schwester nur mit einem kleinen Lächeln an und verschwand hinter dem Porträt.
Claire drehte sich auf den Bauch und begann wieder zu weinen. Nun hatte sie nicht nur Harry, sondern auch ihre Mutter verärgert. Und jeder im Haus war darüber informiert, daß sie sich mit Harry gestritten hatte. Aber Liebende stritten sich doch manchmal. Nur wußte Claire, daß ihr Streit mit Harry kein gewöhnlicher Streit zwischen Liebenden war.
Er war also nach Edinburgh geritten, und sie blieb sich nun in diesem Haus selbst überlassen. Sie würde keine Gesellschaft haben, nichts, mit dem sie ihren Verstand beschäftigen konnte, niemanden, mit dem sie reden konnte, bis er zurückkam.
Sie schluchzte heftiger, weil sie wußte, daß sie und Harry nie richtig miteinander redeten. Wenn Harry zurückkam, würde sie ihren Streit begraben müssen. Sie würde ihm sagen müssen, wie leid es ihr tat, und dann würde sie ... was? Ihre Tage mit der Jagd verbringen und zusehen, wie noch mehr Tiere getötet wurden? Würde sie schließlich hundert Reitkostüme und sechs Dutzend Schrotgewehre besitzen? Würde sie in zehn Jahren noch immer von ihrer Schwiegermutter zum Tee bestellt werden - zu einem Tee, bei dem sie sich nicht einmal setzen durfte?
Jede dieser Überlegungen ließ ihre Tränen reichlicher fließen.
18. Kapitel
Claire wurde von jemandem, der an ihrer Schulter rüttelte, geweckt. Sie konnte kaum die Augen aufmachen, so geschwollen waren sie von dem vielen Weinen am Tag zuvor. Das Zimmer war dunkel bis auf das Licht der Kerze, die der Mann über sie hielt. In ihrem Kopf war ein lautes Pochen.
Es gelang ihr, die Augen wenigstens so weit zu öffnen, daß sie den weißen Schimmer von Omans Kleidung sah. Einen Moment lang war sie zu benommen, um darauf zu reagieren, aber dann war sie plötzlich hellwach.
»Was ist passiert?« fragte sie und versuchte sich aufzusetzen. Aber ihre Muskeln schienen zu schwach dafür zu sein. Sie hatte noch immer ihr feuchtes Reitkostüm an.
»Man hat auf ihn geschossen«, sagte Oman. »Jemand hat versucht, ihn zu töten.«
Claires Augen weiteten sich. »Trevelyan?« flüsterte sie, und Oman nickte. Claire war in der nächsten Sekunde aus dem Bett, aber sobald ihre Füße den Boden berührten, fing sie an zu schwanken und griff sich an den Kopf. Es war lange her, seit sie etwas gegessen hatte. Sie blickte zur Uhr, die auf dem Kaminsims stand. Es war ein paar Minuten nach Mitternacht.
»Hat er nach mir geschickt?« fragte sie. »Wie schlimm ist er verletzt? Ich bin sicher, er wird keinen Arzt kommen lassen, nicht wahr? Wird er wieder gesund?«
Auf all ihre Fragen antwortete Oman nur mit: »Kommen Sie!« und ging zur Geheimtür.
Claire folgte ihm durch die Geheimgänge aufs Dach. Sie dachte nicht daran, was sie tat, sondern folgte Oman mechanisch, während ihr Herz bei jedem Schritt laut klopfte.
Als sie Trevelyans Schreibzimmer erreichten, waren die ersten Worte, die sie hörte, von einem Wutschrei begleitet: »Wo, zum Henker, bist du gewesen? Ich
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