Zwischen Leidenschaft und Liebe
vorzustellen, aber die Männer wollen nicht mit mir reden und die meisten Frauen ebenfalls nicht. Meine Schwester weiß mehr über dieses Haus als ich, obwohl es mir eines Tages gehören soll. Ich habe keine Ahnung, wo jeder sich hier aufhält, und Harry scheint es ebenfalls nicht zu wissen. Das ist alles sehr enttäuschend.«
Die Frau lächelte über ihre Worte, und Claire dachte, sie könne mit ein bißchen Puder und Rouge sogar sehr hübsch aussehen.
»Ich bin Leatrice, Harrys Schwester«, sagte die Frau.
Claire vermochte ihren Schock nicht zu verbergen. »Seine Schwester? Ich hatte keine Ahnung, daß er eine Schwester hat! Oh, verzeihen Sie mir, daß ich mich nicht gleich vorgestellt habe. Ich ...«
»Das ist schon in Ordnung. Es ist leicht, jemanden in diesem Haus zu übersehen. Ich ...«
Sie brach ab, weil in diesem Moment eine Glocke über der Tür anschlug. Sofort verlor sich das Lächeln und jede Wärme schwand aus Leatrices Gesicht. »Entschuldigen Sie. Ich muß jetzt gehen. Mutter braucht mich.«
Ehe Claire auch nur den Mund aufmachen konnte, war Leatrice bereits aus dem Zimmer gegangen. Claire war sich nicht sicher, ob sie noch länger hierbleiben durfte, da dies, wie sie inzwischen annehmen mußte, Leatrices Privatzimmer war, doch die Verlockung der Bücher im Wandregal war zu groß, um ihr widerstehen zu können. Sie suchte sich einen bequemeren Sessel, schlug die Beine unter sich und begann >Waverley< zu lesen.
Um fünf Uhr nachmittags ertönte ein Gong, und sie ging zum Tee, der von Männern und Frauen in getrennten Räumen eingenommen wurde. Es gelang ihr, einen Platz neben Leatrice zu ergattern, und sie versuchte mit ihr ein Gespräch anzufangen.
»Ist Ihre Mutter sehr krank?« fragte sie.
Bei Claires Bemerkungen hörten alle Gespräche auf, und die Blicke aller richteten sich auf Leatrice, die feuerrot anlief. Einen Moment später nahm sie ihre Teetasse hoch, sie schepperte auf der Untertasse, und Leatrice stellte verlegen Tasse und Untertasse auf den Tisch zurück und floh aus dem Zimmer.
Arva blickte ihre Tochter vorwurfsvoll an, und Claire fragte sich, was sie wohl verbrochen hatte.
Nach dem Tee ging Claire auf ihr Zimmer, setzte sich ans Fenster und starrte nach draußen. Brat hatte gesagt, Bramley wäre ein eigenartiges Haus, aber sie fand, daß dieses Wort den hier herrschenden Verhältnissen nicht annähernd gerecht wurde. Voller Sehnsucht dachte sie an ihr Heim in New York, wo sie durch den Park wandern und nach Belieben andere Leute und Häuser aufsuchen konnte. Sie dachte an ihre Freunde, die sie zu besuchen pflegten und mit denen sie sich den ganzen Nachmittag unterhalten konnte. Und sie dachte an die Bediensteten ihrer Familie, die zu ihr kamen, wenn sie nach ihnen rief, und taten, was sie von ihnen verlangte. Ehe sie nach Bramley gekommen war, hatte sie selten einen Gedanken an Mahlzeiten verschwendet. Wenn sie las und etwas zu essen haben wollte, hatte sie nur geläutet, und sogleich wurde ihr etwas auf einem Tablett ins Zimmer gebracht.
Nun wohnte sie in diesem riesigen Haus, war von vielen Leuten umgeben und fühlte sich zum erstenmal in ihrem Leben einsam.
Miss Rogers wählte das Kleid aus, das Claire zum Dinner tragen sollte, und Claire erhob keinen Widerspruch. Miss Rogers war immer noch verschnupft, weil Claire am Abend zuvor das schulterfreie Kleid angezogen hatte.
Das Dinner war, wie immer, lang und langweilig, und Claire versuchte nicht, sich am Tischgespräch zu beteiligen. Sie vermißte Harry, und sie vermißte .. . Nein, sie vermißte sonst niemanden. Sie vermißte Trevelyan nicht, der sich ständig mit ihr anlegte, stets übellaunig war und schwierig im Umgang. Harry würde die Stute mitbringen, die er ihr kaufen wollte, und bis dahin war auch ihr Arm wieder gesund, und sie konnten zusammen ausreiten. Wenn Harry zurückkam, würde alles in Ordnung sein. Und wenn sie erst einmal verheiratet waren und sie die hier geltenden Vorschriften ändern konnte, würde alles besser werden.
Nach dem Dinner ging sie nicht gleich auf ihr Zimmer, weil sie wußte, daß Miss Rogers sie dort mit ihren üblichen Beschwerden und strafenden Blicken erwartete, sondern begab sich in den Garten. Es war kalt, aber sie trug ein Wollkleid und meinte, wenn sie rasch ginge, würde sie nicht frieren.
In dem Garten, dessen Hecken und Sträucher zu Tiergestalten umfunktioniert waren, kam Trevelyan plötzlich hinter einem Busch hervor. Sie preßte die Hand an die Kehle, sagte dann »guten
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