Zwischen Nacht und Dunkel - King, S: Zwischen Nacht und Dunkel - Full Dark, No Stars
Packen heraus und fasste ihn nur mit spitzen Fingern an - wie eine Frau einen Putzlappen anfassen würde, von dem sie befürchtet, er könnte außer Schmutz auch Keime enthalten. Dann streifte sie das Gummiband ab.
Es waren keine Kreditkarten, wie sie zunächst vermutet hatte. Obenauf lag ein Blutspenderausweis des Roten Kreuzes, der auf eine Marjorie Duvall ausgestellt war. Ihre Blutgruppe war A Rhesus positiv, ihre Region Neuengland. Darcy drehte die Karte um und sah, dass Marjorie - wer immer das war - zuletzt am 16. August 2010 Blut gespendet hatte. Vor drei Monaten.
Wer zum Teufel war Marjorie Duvall? Woher kannte Bob sie? Und weshalb hatte sie eine schwache, aber sehr deutliche Erinnerung an diesen Namen?
Die nächste Karte war Marjorie Duvalls Bibliotheksausweis für die North Conway Library, auf dem auch ihre Adresse stand: 17 Honey Lane, South Gansett, New Hampshire.
Die letzte Plastikkarte war Marjorie Duvalls Führerschein aus New Hampshire. Sie sah wie eine ganz durchschnittliche Amerikanerin Mitte dreißig aus, nicht sehr hübsch (allerdings sah auf Führerscheinfotos niemand besonders vorteilhaft aus), aber vorzeigbar. Zurückgekämmtes dunkelblondes Haar, zu einem Nackenknoten oder Pferdeschwanz zusammengefasst; auf dem Foto war das
nicht zu erkennen. Geburtsdatum: 6. Januar 1974. Die Adresse war dieselbe wie auf dem Bibliotheksausweis.
Darcy merkte, dass sie ein trostloses wimmerndes Geräusch machte. Es war entsetzlich, einen solchen Laut aus ihrer Kehle kommen zu hören, aber sie konnte nicht damit aufhören. Und ihr Magen war durch eine Bleikugel ersetzt worden; sie zog alle ihre inneren Organe herab und dehnte sie in neue, unangenehme Formen. Sie hatte Marjorie Duvalls Gesicht in der Zeitung gesehen. Auch in den Sechsuhrnachrichten.
Mit Händen, die absolut gefühllos waren, schlang sie das Gummiband wieder um die Ausweiskarten, legte sie in die Kassette zurück und schob sie in das Versteck zurück. Sie war im Begriff, es wieder zu verschließen, als sie sich sagen hörte: »Nein, nein, nein, das stimmt nicht. Ausgeschlossen!«
War das die Stimme der Cleveren Darcy oder der Dummen Darcy? Schwer zu sagen. Sicher wusste sie nur, dass die Dumme Darcy die Kassette geöffnet hatte. Und dank der Dummen Darcy stürzte sie jetzt ins Bodenlose.
Sie holte das Kästchen wieder heraus. Dachte dabei: Das ist ein Irrtum, es muss einer sein, wir sind über die Hälfte unseres Lebens miteinander verheiratet, ich würde es wissen, ich würde es wissen. Klappte den Deckel auf. Dachte: Kann man einen anderen wirklich kennen?
Vor diesem Abend hätte sie das fest geglaubt.
Marjorie Duvalls Führerschein lag jetzt auf dem kleinen Stapel obenauf. Zuvor hatte er unten gelegen. Darcy tat ihn dorthin. Aber welche der beiden anderen Karten hatte oben gelegen, der Blutspender- oder der Bibliotheksausweis? Das war einfach, es musste einfach sein, wenn es nur zwei Möglichkeiten gab, aber sie war zu durcheinander, um sich erinnern zu können. Sie legte den Bibliotheksausweis obendrauf und wusste gleich, dass das falsch war, weil
beim Öffnen der Kassette als Erstes etwas Rotes aufgeblitzt war, rot wie Blut, natürlich war ein Blutspenderausweis rot, also gehörte diese Karte nach oben.
Sie tat sie dorthin, und als sie das Gummiband wieder um die kleine Kartenkollektion schlang, klingelte im Haus auf einmal wieder das Telefon. Das war er . Das war Bob, der aus Vermont anrief, und wäre sie in der Küche gewesen, um den Anruf entgegenzunehmen, hätte sie seine fröhliche Stimme (eine Stimme, die sie so gut kannte wie ihre eigene) fragen gehört: He, Schatz, wie geht’s dir?
Ihre Finger zuckten, und das Gummiband riss. Es flog weg, und sie schrie auf, ob aus Frustration oder Angst, konnte sie nicht sagen. Aber warum hätte sie Angst haben sollen? In siebenundzwanzig Ehejahren hatte er niemals die Hand gegen sie erhoben, außer um sie zu liebkosen. Und nur ganz wenige Male war er im Streit laut geworden.
Das Telefon klingelte noch mal … noch mal … dann brach das Klingeln mitten im Ton ab. Jetzt würde er eine Nachricht hinterlassen. Hab dich wieder verpasst! Verdammt! Ruf mich an, damit ich mir keine Sorgen mache, okay? Die Nummer ist …
Er würde auch seine Zimmernummer angeben. Bob überließ nichts dem Zufall, setzte nichts als gegeben voraus.
Was sie dachte, konnte niemals wahr sein. Es glich einer dieser monströsen Wahnvorstellungen, die manchmal grausig plausibel aus dem Bodensatz der menschlichen
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