Zwischen Olivenhainen (German Edition)
einem Tag, der doch gerade erst begonnen hatte? Irgendwie hatte sie keine Lust darauf, Serafina oder gar ihrem Vater zu begegnen. Seufzend lehnte sie sich gegen den Maserati, kramte ihr Handy aus der Tasche – es war letzte Nacht Gott sei Dank nicht an der Wand zerschellt – und wählte Annes Nummer.
„Was ist?“, raunzte Anne keine Sekunde später in den Hörer.
„Äh …“, machte Leslie.
„Oh. Du bist’s“, sagte Anne trocken.
„Wer sollte es denn sonst sein?“
„Hm. So ’n nerviger Kollege von Gosetti. Der steht auf mich“, meinte Anne leichthin. „Also, warum rufst du an?“ Sie klang ziemlich verschnupft. Vielleicht, überlegte Leslie, hätte ich gestern nicht ganz so übertrieben reagieren sollen.
„Ich … wollte hören, wie’s dir geht“, murmelte sie dann, und nach kurzem Zögern: „Ich vermisse dich.“ In diesem Moment wurde ihr das zum ersten Mal richtig bewusst. Anne war nicht hier. Sonst war sie immer da, wenn Leslie sie brauchte. Und plötzlich merkte sie, dass sie gewaltigen Anne-Entzug hatte.
„So, so“, sagte Anne spitz, „du vermisst mich.“
„Ja, tut mir echt leid wegen –“.
„Ich dich auch. Ein bisschen jedenfalls.“ Anne lachte leise in den Hörer.
„Das ist gut“, sagte Leslie.
„Hast du deinem Mafioso schon verklickert, dass du ihn verlassen musst? In … Moment, schon übermorgen! Wird er das überleben?“, fragte Anne. Leslie schwieg. Biss sich auf die Unterlippe.
„Ja, hab’ ich“, sagte sie dann leise.
„Und? Was hat er gesagt?“
„Nichts.“
„Nichts?! Der Typ liebt dich so sehr, dass er dich entführt und dann sagt er dazu nichts?!?“ Fast klang Anne etwas ironisch.
„Hm“, machte Leslie und mit einem Mal fiel ihr ein, dass Raffaello mit ihr darüber reden wollte. Heute. Jedenfalls hatte er das vorgehabt.
„Er … wollte mir heute sagen, was er davon hält“, sagte sie schnell.
„Hör mal, er kann dich nicht zwingen, bei ihm zu bleiben, klar?!“, rief Anne aufgebracht.
„Ich weiß, aber –“.
„Kein Aber! Das ist Freiheitsberaubung! Wenn er das tut, komme ich wirklich mit Gosettis Leuten, capito ? Ich hab’ nämlich echt keine Lust mehr hierzubleiben! Das alles wird mir langsam ein bisschen zu viel, weißt du? Ich will nach Hause. Und weißt du was? Es kommt mir so vor, als kenne ich dich gar nicht mehr richtig, dabei sind bloß drei Tage vergangen, seit er dich entführt hat –“
„Er hat mich nicht entführt!“
„Ist doch egal. Ich weiß ja nicht, was er dir in den Kopf gesetzt hat, aber er hat dich voll unter Kontrolle! Der Typ braucht bloß mit den Fingern zu schnippen und du springst!“
„Hast du sie noch alle?!“, rief Leslie wütend. „Du weißt doch gar nicht, wie er ist! Du kennst ihn ja nicht! Er … er manipuliert mich nicht!“ Sie hörte Anne trocken auflachen.
„Liebst du ihn?“, fragte sie dann.
„Ja“, entgegnete Leslie trotzig. Egal, anders konnte sie es nicht ausdrücken.
„Na dann, schön! Heirate ihn!“, rief Anne aufgebracht.
„Jetzt hör auf mit der Scheiße!“
„Ich bin nur stinksauer auf den Typen – ehrlich, ich könnte ihn umbringen, wenn ich nicht wüsste, dass ich danach nicht zwei Tage überleben würde – weil er mir meine beste Freundin weggenommen hat!“ Darauf konnte Leslie nicht gleich antworten. Anne war schon immer ehrlich gewesen. Brutal ehrlich. Aber dass sie ihr verraten würde, dass sie eifersüchtig auf Raffaello war, hätte sie nicht gedacht.
„Was?“, raunzte Anne. „Hat dir die Wahrheit die Sprache verschlagen?“ Ja, dachte Leslie. Jedenfalls ihr Wutausbruch. Anne geriet schnell in Wut und regte sich lieber über alles auf, bevor sie es gründlicher durchdachte. Ihr fiel in dem Moment nichts Besseres ein, als dem Thema auszuweichen.
„Anne?“, fragte sie vorsichtig.
„Was?“
„Ich … muss Schluss machen …“ Manchmal waren Notlügen erlaubt.
„Warum?“
„Bis bald“, sagte sie nur schnell und drückte Anne hastig weg. Erschöpft legte sie den Kopf in den Nacken. Starrte durch Raffaellos Sonnenbrille hinauf in den makellos blauen Himmel. Für einige Sekunden schloss sie die Augen. Und sah ihr Haus in Schottland vor sich. Sie meinte sogar, den kühlen Wind auf der Haut spüren und den Atlantik riechen zu können.
Noch spät am Abend stand Leslie draußen auf dem Balkon und blickte trübsinnig hinaus in die Dunkelheit. Der riesige Garten war komplett eingehüllt in Schatten, nur der Mond überzog das sauber
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