Zwischen Olivenhainen (German Edition)
getreten, blieb er auch schon stehen und hob grüßend die Hand. Leslie lugte an seiner Schulter vorbei. Mario Andolini saß mit verschränkten Beinen und einem Glas Rotwein in der Hand auf dem schwarzen Sofa und blickte ihnen ungerührt entgegen. Dann sagte er seelenruhig:
„Sag mal, hast du den Verstand verloren?“ Er blickte Raffaello dabei fest in die Augen – und dann fing er an, so schnell und aufgebracht auf Italienisch zu schimpfen und wild mit den Händen in der Luft herumzufuchteln, dass Leslie nur hilflos von Mario zu Raffaello und wieder zurück schauen konnte. Was zur Hölle ging hier vor?
Nach anfänglichem Erstaunen konnte sich Raffaello schließlich wieder rühren. Er kam auf Leslie zu, schob sie in Richtung des Sofas, auf dem Mario saß und lehnte sich dann lässig mit verschränkten Armen gegen den Türrahmen. Er musterte Mario ernst, vielleicht auch etwas verärgert, aber er sagte kein Wort. Das war auch gar nicht nötig, denn Mario unterbrach seinen Redeschwall nur ein einziges Mal, um zu Leslie herüberzusehen. „Hallo, Leslie. Schön, dich so schnell wiederzusehen“, sagte er, nur um danach fortzufahren mit seiner Schimpferei.
Seine großen, graublauen Augen schienen noch größer zu werden, während er sprach und seine dichten Augenbrauen hoben und senkten sich in rasendem Tempo, was ihm ein bisschen das Aussehen eines wütenden Stieres verlieh. Irgendwann, nach einer halben Ewigkeit, hörte er auf zu schimpfen. Entsetzliche Ruhe herrschte jetzt im Raum. Die Wanduhr tickte laut. Und irgendwann sagte Raffaello, ohne den Blick von Mario abzuwenden:
„Leslie, geh ein bisschen schwimmen, wenn du magst, ja?“ Was in ihren Ohren so viel hieß, wie „Lass uns alleine! Mein Mafiafreund und ich wollen reden.“
Erst wollte sie empört protestieren, aber dann entschloss sie sich dazu, dieses eine Mal zu tun, was er wollte – verflucht, hatte sie das bis jetzt nicht immer getan? – sah flüchtig zu Mario hinüber, huschte dann eilig aus der Terrassentür und zog sie sorgfältig hinter sich zu. Nun konnte sie nicht mehr hören, ob Mario mit seinem Redeschwall weiter machte oder ob Raffaello etwas erwiderte – oder ob sich die beiden gar gegenseitig an die Gurgel gingen. Großer Gott! Hastig blickte Leslie über die Schulter, doch von außen konnte man nicht viel durch die Scheiben erkennen. Dann schlenderte sie langsam hinter das Haus auf den großen, türkisglitzernden Pool zu, setzte sich an den Beckenrand und tauchte die Füße in das angenehm kühle Wasser. Wie zufällig wanderte ihr Blick zu den uralten Olivenbäumen, die auf der gegenüberliegenden Seite wuchsen und in einem dichten, silbrig schimmernden Dickicht zu enden schienen. Sie fuhr zusammen, als sie sich die Schüsse wieder in Erinnerung rief. Vor ihren Augen flackerten die Bilder wieder auf. Raffaello, wie er mit der Pistole auf seinen Bruder gezielt, wie er ihn angeschrien – und wie er ihn erschossen hatte. Ohne Skrupel. Und im Nachhinein scheinbar auch ohne Reue. Eigentlich absolut widerwärtig.
Und plötzlich fragte sich Leslie, was Francesco ihr hatte erzählen wollen, bevor er starb. Er hatte gesagt, dass Raffaello etwas Schlimmes getan hatte. Sie traute sich nicht, den letzten Satz, den er gesagt hatte, zu Ende zu denken. Niemand war imstande, seinen eigenen Vater umzubringen. Niemand, nicht einmal Raffaello, da war sie sich sicher. Wer garantiert dir das? Wo sind die Beweise dafür, dass er es nicht getan hat, wisperte eine Stimme in ihrem Kopf und ihr wurde schlecht. Mit einem Mal wurde sie so neugierig und gleichzeitig packte sie eine so entsetzliche Furcht. Raffaello verschwieg ihr mit Sicherheit eine Menge – ach was, natürlich tat er das – aber was konnte so schlimm gewesen sein, dass er für dessen Geheimhaltung sogar seinen eigenen Bruder direkt vor ihren Augen erschossen hatte? So viele Fragen tauchten plötzlich in ihrem Kopf auf, so viele Zweifel und Gegensätze, dass sie nicht merkte, wie sich jemand neben sie setzte.
„Danke, dass du hier gewartet hast“, sagte Raffaello und Leslie fuhr erschrocken aus ihren Gedanken hoch. Er musterte sie aufmerksam.
„Was ist?“, fragte er.
„Nichts“, murmelte Leslie schnell, „ich hab’ nur über was nachgedacht.“
„Hm“, machte er und hob eine Augenbraue, „über was?“
„Darüber, warum ich so plötzlich wieder hier bin“, sagte sie. Fast ein wenig verständnislos sah er sie an.
„Hättest du lieber nach Hause gewollt?“, fragte
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