Zwischen Olivenhainen (German Edition)
zu begreifen, was Anne schon längst erkannt hatte. Wütend biss sie sich auf die Unterlippe.
„Bin ich nicht!“
„Ach nein? Warum sitzt du dann hier und machst dir wer weiß wie viele Gedanken über den Kerl?“ Anne rutschte ein wenig näher zu Leslie heran. „Er hat dich mit seinem italienischen Charme voll und ganz in der Hand.“ Trotzig zog Leslie die Augenbrauen zusammen.
„Welcher Charme?“, entgegnete sie, doch sie wusste genau, was Anne meinte. Und im Stillen gab sie ihrer Freundin recht. Voll und ganz. Auch, wenn sie diese Gewissheit nur umso wütender machte.
„Blöder, sizilianischer Macho“, knurrte sie. „Weißt du was, Anne? Ich will nicht mehr über ihn reden. Schluss!“ Sie wollte aufstehen, doch Anne hielt sie zurück.
„Was war das für ein Zettel, den er dir gegeben hat?“ Leslie zuckte nur die Achseln.
„Keine Ahnung“, sagte sie. „Ich hab’ ihn mir nicht angesehen. Liegt im Müll.“ Dann schnappte sie sich Annes Hand und zog sie von der Fensterbank.
„Lass uns runter gehen, was essen“, sagte sie und Anne blickte sie entsetzt an.
„Du willst was essen?!“, fragte sie ungläubig.
Leslie nickte. „Ja.“
„Vielleicht tut dir der Typ doch ganz gut …“, sagte Anne und dafür ließ Leslie ihre Hand los und streckte ihr die Zunge heraus, bevor sie sich bei ihr unterhakte und sie beide nach unten zum Speisesaal liefen.
Die folgenden drei Tage bekam Leslie Raffaello nicht mehr zu Gesicht. Ihr war es recht. Es war am besten, ihn einfach zu vergessen, dachte sie. Er meldete sich nicht, also tat sie es auch nicht. Wie denn auch? Sie hatte ja schließlich nicht einmal seine Handynummer. Und vielleicht war das auch gut so. Sicher war es das. Sie sollte ihn vergessen. Das Ganze war nichts weiter als ein blöder Fehler gewesen. Zeitverschwendung und nicht von großer Bedeutung, versuchte Leslie sich einzureden. Doch jedes Mal, wenn sie daran dachte, wurde ihr ganz flau im Magen und irgendeine Hälfte von ihr schien lautstark gegen ihre Gedanken zu protestieren. Aber dieses Gefühl in der Brust versuchte sie zu vergessen und nicht daran zu denken, damit sie nicht noch auf den grässlichen Gedanken kam, Raffaello hinterher zu trauern.
Das Zimmermädchen hatte längst den Mülleimer geleert, Raffaellos Zettel war wer weiß wohin verschwunden und hoffentlich in winzig kleine Fetzen gerissen worden. Als Leslie am Montagnachmittag vom Essen zurückkam, hatte sie kurz, nur sehr kurz, mit dem Gedanken gespielt, seinen Zettel aus dem Müll zu holen, um nachzusehen, was eigentlich darauf stand, doch sie hatte mit Erfolg gegen diesen Impuls angekämpft und sich mit Anne aufs Bett gesetzt, um die Nachrichten anzuschauen, die sie ohnehin nicht verstand, doch es machte Spaß, sich vorzustellen, was die Leute im Fernsehen redeten.
Bald kam Melissa von ihrem Ausflug mit ihrem Vater zurück und sie gingen alle drei sehr früh zu Bett, weil jeder von ihnen auf eine andere Weise verdammt müde war.
In den nächsten Tagen passierte nicht viel, wenn Leslie nicht aufpasste, schweiften ihre Gedanken immer wieder zu Raffaello ab. Dann sah sie sein blitzendes Macholächeln vor sich, ertappte sich sogar dabei, wie sie zurücklächeln wollte und auch an den Koffer mit dem Sicherheitsschloss musste sie denken. Doch sie verwarf die Vorstellungen, was sich darin wohl befunden haben könnte, schnell wieder, bevor sie ihm noch irgendein Verbrechen andichten konnte – was sie, wenn sie ehrlich war, gar nicht mal überrascht hätte.
Am Donnerstagabend saßen Anne, Melissa und Leslie wie so oft auf dem Bett und sahen sich die Nachrichten an: Eines der größten Orangengeschäfte hatte dichtmachen müssen wegen irgendeiner Insektenplage, in Norditalien hatte es eine Demonstration gegen die Regierung gegeben, die sowieso nichts ändern würde und das Einzige, das Anne, wie sie strahlend verkündete, interessant fand, war die Verhaftung eines Mannes, der jahrelang im Untergrund zwischen Politik und Mafia gearbeitet und vermittelt hatte, was Leslie absolut nicht interessierte. Sie war froh, dass man den Kerl geschnappt hatte.
„Die lösen ihre Leichen in Salzsäure auf“, sagte Anne aufgeregt. „Wusstet ihr das?“ Ihre Augen blitzten und Leslie fand es makaber, dass sich Anne für solche Sachen interessierte.
„Wer?“, fragte Melissa. Sie hatte den Mund vollgestopft mit Chips.
„Na, die von der ehrenwerten Gesellschaft“, entgegnete Anne grinsend.
„Sehr ehrenwert“, murmelte Leslie
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