Zwischen uns das Meer (German Edition)
nach Hause geschickt«, sagte sie zu Carl.
»Das sind doch tolle Neuigkeiten«, antwortete er.
Jolene sah ihn an. Die Vorstellung, nach Hause zu fliegen und Tami zurückzulassen, war unerträglich. »Ich kann sie doch nicht verlassen!«
»Doch, du musst«, erwiderte er sanft. »Sie würde es so wollen. Geh heim, zu deinen Kindern, Jolene.«
Wie lange blieb sie bei Tami und Carl? Minuten? Stunden? Sie wusste es nicht. Während sie bei ihrer Freundin wachte, verlor sie jegliches Zeitgefühl, und selbst der Schmerz in ihrem Bein wurde verdrängt. Sie versuchte die richtigen Worte für Carl zu finden, um ihm Hoffnung zu machen, doch je länger sie dort blieb, desto mehr schwand sie dahin. Anders konnte man es nicht bezeichnen. Schließlich saßen sie in qualvollem Schweigen da, bis Jolene nach der Schwester rief und wieder in ihr Zimmer zurückgebracht werden wollte.
Als sie in ihrem Bett lag, schloss sie die Augen und versuchte, nicht an das Schlimmste zu denken – daran, dass Tami möglicherweise nie mehr aufwachte. Daran, dass Smitty nie mehr nach Hause kam.
Ihr war vage bewusst, dass Leute kamen und gingen, nach ihr sahen, Medikamente verabreichten und sich um ihren Beinstumpf kümmerten. Ihn anhoben, säuberten, neu verbanden. Sie versuchte die Augen geschlossen zu halten und all das zu ignorieren.
»Jo?«
Als sie Michaels Stimme hörte, überflutete Überdruss sie. »Hatte ich dich nicht gebeten, nach Hause zu fliegen?«
»Das war doch nicht dein Ernst! Ich hab versucht, dir zu sagen, dass ich dich liebe, Jo. Und dass es mir leidtut.«
Das interessierte sie nicht. Nicht mehr. Was sollte sie mit einer Liebe, auf die sie sich nicht verlassen konnte? Langsam wandte sie den Kopf und blickte ihm in die Augen. »Geh nach Hause und kümmere dich um unsere Kinder, Michael. Bitte.« Ihr brach die Stimme. »Bitte. Sie werden dich brauchen. Ich nicht.«
»Jolene …«
Tränen brannten ihr in den Augen. »Geh, Michael. Ich komme in ein paar Tagen nach. Es wird alles für meine Entlassung vorbereitet. Das weißt du doch. Du kannst ohnehin nicht mit mir nach Hause fliegen. Also geh. Kümmere dich um unsere Kinder. Nur so kannst du mir helfen.«
»Ist gut«, sagte er langsam, so als ahnte er, dass es falsch war, wäre aber dankbar für die Möglichkeit zu fliehen. »Ich gehe. Aber wenn du nach Hause kommst, werde ich da sein und auf dich warten.«
»Da hab ich aber Glück«, murmelte sie und schloss die Augen.
Auf dem langen Heimflug redete sich Michael immer wieder ein, dass er nur tat, was Jolene von ihm verlangt hatte. Und manchmal glaubte er sogar daran. Aber die meiste Zeit war ihm die Wahrheit bewusst: Er floh, genau wie bei seinem Vater, als der im Sterben lag. Das war sein Makel, hässlich und abstoßend wie ein Bluterguss. Er hielt es einfach nicht aus, wenn Menschen, die er liebte, leiden mussten.
Doch schlimmer als seine Scham war sein Schuldgefühl. Ständig musste er daran denken, dass er für alles verantwortlich war. Er hatte Jolene mit unbedachten Worten das Herz gebrochen und sie dann in den Krieg geschickt, während er sich in selbstgerechtem Zorn suhlte und ihr vorwarf, sich in Gefahr begeben zu haben.
Er hätte alles dafür gegeben, jenen Abend ungeschehen zu machen, an dem er alles zerstört hatte. Wäre sie unversehrt zurückgekommen, wenn er sie mit seiner Liebe in den Krieg entlassen hätte? Wäre sie dann stärker gewesen? Hätte sie ihren Hubschrauber eine Sekunde schneller gewendet?
Er wusste, dass die Antwort darauf Nein war. Jolene war eine hervorragende Pilotin, und wenn sie eines aus ihrer schlimmen Kindheit gelernt hatte, dann die Fähigkeit, Schmerzen zu verdrängen und weiterzumachen.
Jetzt war er fast zu Hause. Als die Fähre auf Bainbridge Island anlegte, fuhr er von Bord und über die Agate-Pass- Brücke, dann vorbei an den Verkaufsständen für Feuerwerke, die erst wieder zu Weihnachten für die Christbäume gebraucht werden würden, und schließlich durch den malerischen Ort Poulsbo.
Auf der Markise des Buchladens sah er das erste Spruchband: Jolene Zarkades und Tami Flynn, wir beten, dass ihr gesund heimkehrt.
Danach sah er überall ähnliche Schilder und unzählige Telefonmasten, Verandageländer und Zaunpfosten, die mit gelben Bändern versehen waren.
Gelbe Bänder wiesen ihm auch den Weg aus dem Ort bis zu seinem Haus: auf Briefkästen, an Haustüren und an Apfelbäumen mit buntem Herbstlaub.
Als er sich seinem Haus näherte, konnte er sehen, dass sein ganzer Zaun
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