Zwischen uns das Meer (German Edition)
sie und wischte sich über die Augen. Dann marschierte sie aus dem Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu.
»Aber wo ist ihr Bein denn, Daddy?«, fragte Lulu und brach in Tränen aus.
»Jo.«
Als sie Jamies Stimme hörte, schlug sie die Augen auf.
Im Türrahmen stand Jamie, in Uniform.
»Hey.« Sie lächelte ihn an und versuchte, zuversichtlich zu wirken. In letzter Zeit schien sie all ihr Mut, all ihre Kraft verlassen zu haben. Es tat so verdammt gut, Jamie gesund und munter vor sich zu sehen, selbst wenn er humpelte. Er hatte sie schon am Vortag besucht.
Jamie schloss die Tür hinter sich und trat zu ihr. Er sah sie so mitleidig an, dass Jolene fast schon wieder in Tränen ausgebrochen wäre. Er wusste, was sie empfand.
»Es ist nicht deine Schuld, Jo.«
»Smitty ist tot. Tami liegt im Koma. Und ich hab den Helikopter geflogen.«
»Du hast sie aus dem Helikopter gezogen, Jo. Du.« Er blickte vielsagend auf ihr amputiertes Bein. »Trotz deines zerschossenen Beins. Du hast deine beste Freundin getragen. Ich hab es gesehen, als ich mich abmühte, Smitty rauszuholen. Ich schaffte es zwar, aber es war zu spät.«
Jetzt erkannte sie, dass auch Jamie Schuldgefühle hatte.
»Ich hab ihn gesehen, Jamie. Er war bereits tot.«
Er starrte zu ihr herunter. »Gib nicht auf.« Seine Stimme war heiser.
»Ich weiß nicht, wie ich so weitermachen soll.« Sie zeigte auf ihren versehrten Körper.
»Du bist Soldat, Jo. Das ist in dir.«
»Wirklich?«
»Ich bin zurück in den Irak beordert worden«, teilte er ihr schließlich mit.
Sie nickte nur, weil sie einen Kloß im Hals hatte. Es fuhr ihr kurz durch den Sinn, dass sie zu diesem Mann ehrlicher gewesen war als je zu ihrem Ehemann. »Pass auf dich auf, Jamie.«
Daraufhin starrte er sie durchdringend an. »Du bist mein Held, Chief. Das sollst du wissen. Und du wirst mir da oben am Himmel fehlen.«
Dann war er fort, und sie blieb allein zurück.
SEPTEMBER
Ich sollte froh sein, dass ich Linkshänderin bin. Das höre ich hier ständig. Aber wie soll ich mich je wieder über irgendwas freuen?
Morgen fliege ich nach Hause, und Tami ist immer noch nicht aus dem Koma erwacht. Carl sagt, die Ärzte schütteln langsam den Kopf und fangen an, ihn auf ihren Tod »vorzubereiten«. Wie soll man darauf vorbereitet sein?
Tami, die keinen Ton halten kann, Mai Tais liebt und nie weiß, wann sie aufhören soll. Meine beste Freundin. Sie wird jetzt nicht aufhören. Auf gar keinen Fall.
Carl hat sich heute Morgen von mir verabschiedet, und als ich die Angst in seinen Augen sah, wurde mir übel. Er sagte: »Heute hat ihr Herz aufgehört zu schlagen. Sie wurde wiederbelebt, aber …«, und dann haben wir beide geweint. Er weiß nicht, was Tami über Wiederbelebung und Intubation denkt. Aber ich hab ihm gesagt, dass sie eine Heldin war und man niemals aufgibt. Niemals.
Jolene schrak aus dem Schlaf. Einen perfekten Augenblick lang wusste sie nicht, wo sie war – dann dämmerte ihr die Wahrheit. Tami lag ein paar Zimmer weiter im Koma, Michael war fort, und sie bereitete sich darauf vor, nach Hause zu gehen.
Nach Hause.
Als sie die Augen aufschlug, stand am Fußende ihres Betts eine Soldatin in Uniform und las die neueste Ausgabe der Stars and Stripes. Jolene drückte auf den Schalter an ihrem Bett, der langsam ihr Kopfteil aufrichtete, bis sie die Frau ansehen konnte.
»Hallo, Chief«, sagte diese und legte die Zeitung auf die flache Decke am Fußende des Betts. Nicht genau dahin, wo Jolenes Bein hätte liegen sollen, aber nah dran.
»Kenne ich Sie?«
»Nein. Ich bin Leah Sykes aus North Carolina«, erklärte sie mit ansprechendem Akzent.
»Ach.«
»Ich bin jetzt seit über neun Monaten zum ersten Mal wieder im Landstuhl-Krankenhaus. Mit manchen Dingen kann man sich erst nach einiger Zeit konfrontieren.«
»Sind Sie ein Morale Officer? «
Leah lachte. »Aber nein. Mein Mann würde Ihnen sagen, dass ich nicht der Typ Frau bin, der die Moral der Truppe heben könnte. Aber Sie. Ich habe gehört, Sie sind Helikopterpilotin.«
Jolene sah auf die Stelle, wo ihr Bein hätte liegen sollen. »Ich möchte nicht unhöflich sein, Leah, aber ich bin müde …«
»Haben Sie schon mal vom Lioness Program gehört?«
Jolene seufzte. »Nein.«
»Das wurde vor einigen Jahren ins Leben gerufen, glaube ich. Ich bin keine Historikerin. Jedenfalls, als die Marines mit ihren Durchsuchungen anfingen, stießen sie auf erbitterten Widerstand irakischer Frauen, die sich nicht von Männern
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