Zwischen uns das Meer (German Edition)
Haus.
»Sie ist da!«, kreischte Lulu und kam die Treppe heruntergerannt. Mila und Betsy folgten ihr.
»Du bist da, du bist da!«, sang Lulu und tanzte. »Hast du gesehen, was wir für dich gemacht haben? Betsy? Komm, zeigen wir ihr, was wir für sie gemacht haben. Hast du Hunger, Mommy?«
Jolene packte die Gummigriffe ihres Rollstuhls und bemühte sich, ruhig zu atmen. Ihr Herz raste. Was war los mit ihr? Sie wollte doch hier sein, wollte es mit jeder Faser ihres Herzens, und doch …
»Sie sieht komisch aus«, sagte Betsy und verschränkte die Arme. »Was ist los mit ihr?«
Lulu kam zu ihr und legte den Kopf schräg. »Du freust dich doch über das, was wir für dich gemacht haben, oder, Mommy?«
Jolene zwang sich zu lächeln. »Aber natürlich, Lulu. Ich will unbedingt alles sehen. Es ist nur …« Sie blickte sich um, sah die Zeugnisse ihres früheren Lebens, alles, was ihr einst wichtig gewesen war, und merkte, dass es ihr nichts bedeutete. Sie fühlte sich taub und isoliert, wie eine Frau, die in Watte gepackt war und nur durch ein Guckloch auf die Welt blicken konnte. Ein wandelnder Geist unter Menschen.
Mila kam und beugte sich zu ihr, so dass sie sich direkt in die Augen blicken konnten. Sie streckte die Hand aus, drückte Jolenes und sagte nur: »Du bist wieder da.«
Jolene brannten die Augen. »Ich freue mich, wieder hier zu sein«, erwiderte sie mit angespannter Stimme.
»Vergesst nicht, dass eure Mom schnell müde wird«, mahnte Michael und trat zu ihr.
»Nach zehn Minuten schon?«, murmelte Betsy.
Jolene spürte, wie ihre Heimkehr den Bach hinunterging. Trotz ihrer guten Vorsätze hatte sie sie schon enttäuscht. Konzentrier dich, Jo. Sei so, wie sie es von dir erwarten. Wie hättest du dich früher verhalten? »Warum fahrt ihr mich nicht herum, Lulu und Betsy? Ihr könnt mir alles zeigen, was ihr gemacht habt.«
»Kannst du nicht auf deiner Prothese laufen?«, fragte Betsy.
»Conny meint, ich sollte damit noch ein bisschen warten. Unsere Böden sind vielleicht nicht ganz eben. Ich muss es langsam angehen.«
»Ach.« Betsy klang enttäuscht. Sicherlich wollte sie eine Mutter, die wenigstens normal aussah. Jetzt stellte sie sich hinter den Rollstuhl; Lulu schmiegte sich an sie. In der nächsten Stunde schoben sie sie durchs Haus und zeigten ihr die Veränderungen, die sie für sie vorgenommen hatten: das Essen im Kühlschrank, den Kuchen auf der Küchentheke, das Spruchband an der Wand und ihr neues Zimmer, in dem früher Michaels Arbeitszimmer untergebracht war. Während des gesamten Abendessens plapperte Lulu ununterbrochen.
Um acht Uhr konnte Jolene kaum noch die Augen offen halten. Sie hatte dröhnende Kopfschmerzen, und ihr Beinstumpf tat so weh, dass sie sich kaum noch konzentrieren konnte. Betsy war mit ihr zweimal versehentlich gegen einen Türrahmen gestoßen.
»Nicht träumen, Mommy«, verlangte Lulu. »Ich zeig dir gerade dein neues Nachthemd. Siehst du?«
»Ja, ja, als wäre das wichtig«, sagte Betsy. »Ihr ist das alles vollkommen egal.«
Jolene sah auf. »Tut mir leid. Mir ist das nicht egal. Aber ich bin ein bisschen müde.«
Mila erhob sich vom Sofa. »Na, kommt, Mädchen, ab nach oben. Zeit, ins Bett zu gehen.«
»Komm mit, Mommy«, bat Lulu. »Ich zeig dir, wie ich mir die Zähne putzen kann.«
»Mädchen«, sagte Michael. »Eure Mutter hatte einen langen Tag. Gebt ihr jetzt einen Gutenachtkuss.«
Lulu sah aus, als würde sie gleich weinen. »Kommt sie uns denn keine Geschichte vorlesen?«
Betsy verdrehte die Augen. »Wie denn, mit dem Rollstuhl, Lucy?«
»Ach.« Lulu schmollte. »Das find ich aber doof.«
Jolene breitete die Arme aus. »Komm her, Lucy Lou.«
Darauf kletterte ihr Lulu auf den Schoß; es tat weh. Jolene biss die Zähne zusammen und hoffte, ihre Grimasse würde als Lächeln durchgehen. »Eines Tages kann ich auch wieder nach oben kommen. Nur jetzt noch nicht, okay?«
»Na gut«, sagte Lulu gedehnt, um ihr Missfallen zu bekunden.
Betsy murmelte »Gute Nacht« und verließ das Zimmer.
Mila nahm Lulu bei der Hand und ging mit ihr nach oben.
Jolene stieß einen Seufzer aus. Sie stand in der offenen Tür ihres neuen Zimmers. Von Michaels früherer Einrichtung war nur sein alter Schreibtisch vom College mit dem Computer geblieben, der jetzt am Fenster stand. Die Tür zum angrenzenden Bad war verbreitert worden; der Rahmen fehlte noch, so dass jetzt nacktes Mauerwerk zu sehen war.
Ein antikes, breites Bett stand mitten im Raum. Leuchtend
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