Zwischen uns das Meer (German Edition)
wählte Geschworene aus. Einem Kandidaten nach dem anderen stellte er Testfragen und versuchte, ihre Gesinnung zu ergründen. Als sich das Gericht vertagte, kehrte er in seine Kanzlei zurück und arbeitete etwa eine Stunde an seinem Eröffnungsplädoyer.
Er wusste, dass der Staatsanwalt im Fall Keller den Schwerpunkt auf die Fakten legen würde. Brad würde mit der verdammungswürdigen Tat beginnen, herausstreichen, wie sehr Emily ihren Mann geliebt und ihm vertraut hatte, und dann schildern, wie dieser Mann ihr in den Kopf schoss. Er würde immer wieder betonen, dass Keith die Tat nicht geleugnet hatte. Dann würde er so viele Beweise präsentieren, bis die Geschworenen sich fragen würden, warum sie eigentlich da waren. Ihnen würde mitgeteilt werden, dass Keiths Blackout sehr »günstig« käme und zweifellos reine Erfindung wäre. Wahrscheinlich würde Brad in etwa so schließen: »Wer würde nicht gerne vergessen, seiner Frau in den Kopf geschossen zu haben? Nun, meine Damen und Herren Geschworenen, ich sag Ihnen, wer dies nicht vergessen will.« Dann würde er sich zu Emilys weinenden Eltern wenden. » Ihnen möchte ich nicht erzählen, dass der Mörder ihrer Tochter straflos davonkommt. Sie etwa?«
Normalerweise würde Michael versuchen, jeden Beweis in seiner Eröffnung zu widerlegen, um Zweifel am Fall insgesamt und in den Details zu wecken.
Aber jetzt würde er ein kalkuliertes Risiko eingehen und nicht leugnen, dass Keith Keller seine Frau umgebracht hatte. Vielmehr wollte er der Jury begreiflich machen, warum dies geschehen war. Im Staat Washington musste die Staatsanwaltschaft jedes einzelne Element eines Verbrechens nachweisen, auch den Vorsatz. Einfach gesagt, musste sie über jeden berechtigten Zweifel hinaus beweisen, dass Keith Keller seine Frau vorsätzlich getötet hatte.
Vorsätzlich.
Das war der entscheidende Punkt.
Als er um halb sechs auf die Fähre nach Hause fuhr, dachte er immer noch darüber nach. Doch als er in seine Einfahrt einbog, fragte er sich, wie Jolenes erster Tag zu Hause wohl verlaufen war. Heute war Mila nicht gekommen, um sich nach der Schule um die Kinder zu kümmern. Zum ersten Mal waren sie wieder mit Jolene zusammen gewesen.
Als er das Haus betrat, empfing ihn das reine Chaos.
Jede einzelne Lampe brannte, der Fernseher lief und zeigte irgendeine alberne Teeniekomödie. Die Mädchen aber stritten sich. Er sah an Lulus wildem Blick, dass sie kurz vor einem hysterischen Anfall stand, und Betsy wirkte stocksauer.
Als sie ihn bemerkten, hörten sie auf, einander anzuschreien, und schrien stattdessen ihn an.
»Hey, hey, hey.« Er hob beide Hände. »Ganz ruhig.«
»Mommy hat uns nicht mehr lieb«, sagte Lulu.
»Sie war ein echtes Miststück, Dad. Ich weiß, das sollte ich nicht sagen, aber es stimmt«, fügte Betsy hinzu. »Und jetzt hat sie sich in ihrem Zimmer verschanzt. Als ich zu ihr ging, hat sie gesagt: ›Nicht jetzt, Betsy.‹ Sie hat sich nicht mal wegen heute Morgen entschuldigt.«
»Heute Morgen? Was war denn da?«, wollte er wissen.
»Wir sind zu spät in die Schule gekommen. Wir haben den Bus verpasst«, erklärte Betsy mit schriller Stimme.
»Sie hat das Wasser für den Haferbrei fallen lassen und ein schlimmes Wort gesagt«, setzte Lulu gewichtig und mit zitternden Lippen hinzu. Sie stand kurz vorm Weinen.
»Mädels, habt ihr schon vergessen, dass wir darüber geredet haben? Der Übergang wird nicht ganz leicht werden. Wir wollten doch geduldig sein, schon vergessen?«
»Ja, dann hättest du aber auch mit ihr reden sollen. Ich hab ihr sogar angeboten, ihr beim Frühstück und allem anderen zu helfen«, sagte Betsy. »Irgendwas stimmt nicht mit ihr, Dad.«
Er sah, wie wütend und aufgebracht seine Tochter war, spürte aber die Angst dahinter. Er verstand sie. Jolene war nicht mehr dieselbe, und keiner von ihnen wusste, wie er mit ihr umgehen sollte. »Das wird schon wieder gut, Betsy.«
»Weißt du was, Dad? Ich hab’s satt, das zu hören. Denn es ist eine dicke, fette Lüge.«
»Sie ist so anders«, flüsterte Lulu, während ihr die Tränen über die Wangen liefen. »Sie hat nach der Schule nicht mal mit uns geredet.«
Michael kniete sich hin und breitete die Arme aus. Als die Mädchen zu ihm stürzten, drückte er sie fest an sich.
Nachdem sie sich schließlich von ihm gelöst hatten, sah Michael, dass Betsy Tränen in den Augen hatte. »Es tut mir leid, Betsy. Ich weiß, sie hat dich gekränkt …«
»Mich auch!«, rief Lulu.
»Euch
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