Zwischen uns das Meer (German Edition)
an.
»Und?«, sagte Betsy zu ihrer Mutter.
»Was und?«
»Was ist los mit dir?«
Jolene spürte, wie Bitterkeit in ihr aufkam. Sie wollte sich beherrschen, wie jede gute Mutter es getan hätte, aber sie konnte es nicht. Die Wut und Gereiztheit waren stärker. »Was mit mir los ist?« Fast hätte sie geschrien: Siehst du das nicht?
Draußen fuhr der Schulbus vor und hielt.
Betsy schrie auf und ließ Lulu los, die hart auf dem Boden aufkam und sofort anfing zu schreien: »Sie hat mir weh getan! Sie hat mir weh getan!«
Betsy rannte zur Küchentür und riss sie auf: »Halt! Halt!«
Aber es war zu spät. Jolene hörte, wie der Bus weiterfuhr.
»Ich komme zu spät !«, rief Betsy und stampfte zu ihr herüber. »Jetzt komm ich zu spät zur ersten Stunde. Und alle werden mich anstarren!«
Lulu heulte. »Ich hab Hunger! Daddy soll kommen!«
»Was ist?«, fuhr Betsy Jolene an. »Willst du einfach nur so dasitzen?«
Das war zu viel. Jolene packte die Räder ihres Rollstuhls und wirbelte herum. »Was zum Teufel hast du da gesagt? Glaub mir, es ist nicht so schlimm, zu spät zur Schule zu kommen, Betsy.« Sie hob ihr Restbein; es zuckte hoch und ließ die leere Hose wie eine Fahne in die Höhe schnellen. » Das hier ist wirklich schlimm. Mach deiner Schwester Frühstück. Yia Yia kommt gleich. Die kann euch zur Schule fahren.«
»Du hast gesagt, du würdest wieder gesund werden!«, schrie Betsy mit hochrotem Kopf. »Aber das stimmt nicht! Du kannst dich nicht mal um uns kümmern. Wieso bist du überhaupt zurückgekommen?«
»Und du bist eine verwöhnte Göre!« Jolene packte die Räder ihres Rollstuhls und fuhr in ihr Zimmer. Dort angekommen, knallte sie die Tür hinter sich zu. Sie stand auf, hüpfte zum Bett und ließ sich stöhnend darauf fallen.
Wie gerne hätte sie jetzt ihre beste Freundin angerufen und ihr gesagt: Ich hab gerade meine Tochter angeschrien, und sie hat zurückgeschrien. Sag mir, dass ich keine schlechte Mutter bin … sag mir, dass sie ein Miststück ist … sag mir, dass alles wieder gut wird …
Durch die geschlossene Tür hörte sie Lulu weinen. Betsy versuchte, sie zu trösten. Wahrscheinlich saßen sie aneinandergeschmiegt da, starrten auf die geschlossene Tür und fragten sich, was aus ihrer Mutter geworden war. Sie wussten, dass es nicht ihre Mutter war, die aus dem Krieg zurückgekehrt war. Nicht wirklich. Die Frau, die nach Hause gekommen war, war ihnen allen fremd, aber am meisten Jolene selbst.
Daddy soll kommen.
Wann hatte Lulu sich je von Michael trösten lassen wollen?
Noch eine Veränderung. Während Jolenes Abwesenheit hatte sich der Mittelpunkt der Familie verlagert. Sie war eine unwichtige Randfigur geworden. Michael tröstete sie jetzt und kümmerte sich um sie. Ihm vertrauten sie jetzt.
Als es klopfte, reagierte sie nicht.
Die Tür ging auf, und Mila trat ein. Sie hatte ihre Arbeitskluft an: Jeans, Jeanshemd in Übergröße und grüne Schürze. Ihre schwarzen Haare wurden von einem blau-weißen Stirnband zurückgehalten. Sie kam zum Bett und nahm auf der Kante Platz. Dann strich sie Jolene das wirre Haar aus dem Gesicht. »Eine Kämpferin rennt nach einer verlorenen Schlacht nicht ins Schlafzimmer und versteckt sich.«
»Ich bin keine Kämpferin mehr, Mila. Und auch keine Ehefrau oder Mutter. Die Frage ist, wer zum Teufel ich eigentlich bin!«
»Du bist immer so hart zu dir, Jolene. Was ist schon dabei, dass man mal Schwierigkeiten hat, einen Topf Wasser fallen lässt und die Kinder anschreit? Als Michael in der Pubertät war, hab ich ihn ständig angeschrien.«
»Früher hab ich sie nie angeschrien.« Jolene spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog.
»Ich weiß. Aber ehrlich gesagt war das nicht normal.«
»Jetzt haben sie Angst vor mir«, seufzte sie. » Ich habe Angst vor mir.«
Mila sah sie mit einem wissenden Lächeln an. »Uns allen war klar, dass es während deiner Abwesenheit schwer werden würde, aber niemand hat uns gesagt, wie schwer es nach deiner Rückkehr werden würde. Daran müssen wir uns einfach gewöhnen. Und zwar alle. Und du musst nachsichtig mit dir sein.«
»Das konnte ich noch nie gut.«
»Ja, das stimmt. Aber jetzt steh auf und zieh dich an. In zwanzig Minuten müssen wir zur Physiotherapie.«
»Ich gehe heute nicht. Ich fühl mich nicht gut.«
»Du gehst«, beharrte Mila.
Jolene wollte schon wütend werden und widersprechen, doch vor lauter Müdigkeit und Frustration gab sie nach.
Michael verbrachte den ganzen Tag im Gericht und
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