Zwischen uns das Meer (German Edition)
vorsichtig an und kam sich vor wie ein Heuchler. Er hatte doch keine Ahnung, und das wussten sie beide.
»Schrecklich? Ja.«
»Hattest du die ganze Zeit Angst?«
Sie starrte aus dem Fenster. »Nein, nicht die ganze. Aber ich will nicht darüber reden, Michael. Das ist jetzt vorbei.«
»Du bist zu Hause, Jo«, sagte er.
Sie nickte, ohne ihn anzusehen. Auch auf der Fahrt durch Seattle sagte sie kein Wort. Sie starrte aus dem Fenster und zuckte auf seine Fragen hin nur mit den Schultern.
Als er sie absetzte, sagte er: »Jo? Dir ist doch klar, dass wir über alles reden müssen, oder?«
»Ja, ja«, antwortete sie. »Ich weiß.« Sie klang, als erschöpfte sie schon die Vorstellung.
Er sah ihr nach, wie sie im Rehazentrum verschwand, und fuhr dann davon. Doch anstatt direkt in seine Kanzlei zu fahren, bog er auf die Aurora Avenue und steuerte zu Cornflowers Praxis.
Am Empfang erklärte er dem Mädchen mit dem knallroten Haar und dem Piercing: »Ich weiß, ich hab mich nicht angemeldet. Aber wenn es möglich ist, würde ich gerne mit Chris sprechen. Mein Name ist Michael Zarkades.«
»Ja, eine Sekunde.« Sie stand auf und ging den Flur hinunter. Ein, zwei Minuten später war sie schon wieder zurück. »Er empfängt Sie im Wintergarten. Da entlang.«
Michael ging zu einem hübschen Wintergarten, in dem Rattanmöbel aus den Fünfzigern und unzählige Grünpflanzen standen. Mit den breiten Bodendielen und den Blumenmustern auf den Polstermöbeln erinnerte er ihn ein bisschen an das Wohnzimmer seiner Eltern. Ein vergilbtes, gerahmtes Poster des Gedichts Desiderata hing an der einzigen festen Wand. Geh ruhig durch Lärm und Hast und denk daran, welchen Frieden die Stille birgt. Er lächelte unwillkürlich. Genau dieses Poster hatte bei seiner Mutter an der Schlafzimmerwand gehangen.
»Ich hab nicht viel Zeit, Michael«, erklärte Chris und schloss die Tür hinter sich. »In zehn Minuten kommt der nächste Patient. Geht es um Keith? Werden die Alpträume schlimmer?«
Michael setzte sich in einen der Sessel. »Es geht um meine Frau, Chris. Sie ist … anders als sonst. Gestern Abend hat sie ein paar Gläser Wein getrunken – ich weiß, das hört sich harmlos an, aber ihre Eltern waren Alkoholiker, und ich habe noch nie gesehen, dass Jolene mehr als ein paar Schlucke trinkt. Und sie ist schreiend aufgewacht.«
»Das Veilchen ist also von ihr?«
»Sie hatte schon immer muskulöse Arme. Sie sollten mal sehen, wie sie Bälle wirft.«
Chris lächelte und setzte sich. »Offensichtlich reichen zehn Minuten für dieses Gespräch nicht. Ich würde mich freuen, mit Jolene zu reden, wenn sie dazu bereit ist.«
»Eigentlich redet sie nicht über Probleme, aber immerhin hat sie zugegeben, dass sie welche hat.«
»Sie ist Soldat, Michael, was heißt, sie will keine Schwäche zeigen. Es wird schwer für sie sein zuzugeben, dass sie Schwierigkeiten hat, sich an die Veränderung zu gewöhnen. Wie Sie wissen, sind Schlafstörungen und Alpträume häufig Symptome für posttraumatische Belastungsstörungen, aber es sind auch normale Reaktionen, wenn man im Krieg war. In den meisten Fällen werden die Alpträume im Laufe der Zeit weniger. Wirklich Sorgen müssen wir uns erst machen, wenn sich in drei Monaten immer noch akute Symptome zeigen. Aber im Moment durchlebt sie viele verschiedene Emotionen: Wahrscheinlich trauert sie um ihr verlorenes Crewmitglied und ihre Freundin, die im Koma liegt; wahrscheinlich hat sie auch – völlig unberechtigte – Schuldgefühle und meint, der Absturz wäre ihr Fehler gewesen; wahrscheinlich befürchtet sie, ihre Familie wäre irreparabel auseinandergebrochen und sie hätte nicht die Kraft, sie alle wieder zusammenzubringen. Und dazu kommt noch der Umstand, dass sie ihr Bein und vermutlich auch ihren Beruf verloren hat. Das ist die Krisenlage Ihrer Frau.«
»Und wie kann ich ihr helfen?«
»Sie hat das Gefühl, sich aufzulösen«, sagte er leise. »Man glaubt, man wäre eine eindeutig definierte Person, und plötzlich ist man es nicht mehr. Man weiß nicht, wer man ist. Und die Alpträume können einem wirklich zusetzen.«
»Das hab ich gesehen.«
»Stellen Sie sicher, dass es keinerlei Waffen im Haus gibt.«
»Was? »
»Und achten Sie darauf, dass sie nicht zu viel trinkt, denn das könnte ihre Probleme verschärfen. Doch vor allem müssen Sie sie dazu bringen zu reden, Michael. Hören Sie ihr einfach zu, ohne sie zu verurteilen.«
»Im Reden waren Jo und ich noch nie besonders
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