Zwischen uns das Meer (German Edition)
legte sie neben die seines Vaters. Danach kamen Tamis Verwandte nacheinander zum Sarg, um sich zu verabschieden und eine Rose zu hinterlassen.
Als Jolene an der Reihe war, stand sie langsam auf. Sie fühlte sich unsicher, wusste nicht, ob ihre Beine sie tragen würden.
»Du schaffst das«, sagte Michael.
Vorsichtig setzte sie sich in Bewegung. Am blumenübersäten Sarg blieb sie stehen, streckte die Hände aus und berührte das glatte Holz. Ihre Rose stach ihr in die Hand. Leb wohl, Flygirl, ich werde dich vermissen …
Sie legte ihre Rose zu den anderen und begab sich zu den fünf Soldaten, die sich um den Sarg versammelt hatten. Als die Dudelsackmusik wieder ertönte, sah Jolene zu, wie sie – ihre Freunde von der Nationalgarde – den Sarg anhoben und ihn den rasenbedeckten Hügel hinunter zu Tamis letzter Ruhestätte trugen. Jolene ging als Sargträger ehrenhalber neben ihnen.
Tränen trübten ihr die Sicht, aber sie hinkte immer weiter und verbiss sich die Schmerzen. Bei jedem Schritt drohte sie wegen des unebenen Rasens zu stolpern, aber sie blieb nicht stehen. Endlich kamen sie ans Grab.
Die Dudelsäcke verstummten, und die Musik verwehte im Wind. In der einsetzenden Stille erhoben sich plötzlich drei Helikopter donnernd, mit wirbelnden Rotoren in die Luft und verharrten über dem Friedhof.
Leb wohl, Tami. Guten Flug …
Und dann war es vorbei.
S IEBENUNDZWANZIG
Die gesamte nächste Woche hing für Jolene alles am seidenen Faden. Ihre Trauer war so überwältigend, dass sie sich zwang, sie völlig zu ignorieren. Mit Wein und Schlaftabletten flüchtete sie sich in einen Dämmerzustand. Dreimal die Woche ging sie zur Reha und versuchte sich auf ihre Wiederherstellung zu konzentrieren, obwohl ihr die im Grunde gleichgültig war. Zu Hause angekommen, trank sie zwei, drei Gläser Wein, kroch ins Bett und zog sich die Decke über den Kopf. Wenn sie Glück hatte, konnte sie schlafen. Wenn nicht, lag sie die ganze Nacht wach und dachte an ihre beste Freundin. Sie wusste, was ihre Familie über ihre Lethargie dachte: Betsy war wütend, Michael war traurig und Lulu verwirrt.
Sie wusste, dass sie sie schon wieder im Stich ließ, und manchmal setzte ihr das auch zu. Aber meistens … verdrängte sie es einfach. Nicht mal an Halloween hatte sie die Kraft aufzustehen. Sie winkte ihrer Prinzessin und ihrer Zigeunerin nach und sah, wie sie mit Mila und Michael zum Süßigkeitensammeln aufbrachen.
»So, Jolene«, sagte Michael eines Morgens Anfang November. Er kam in ihr Zimmer, riss die Vorhänge zurück und ließ Licht und Luft herein.
Jolene dröhnte der Schädel. Hatte sie gestern Abend vielleicht etwas zu viel getrunken? »Geh weg, Michael. Es ist Samstag, ich muss nicht zur Reha.«
»Du gehst woanders hin.«
Sie setzte sich auf und blinzelte ihn müde an. »Wohin soll ich denn deiner Meinung nach?«
Er trat einen Schritt beiseite. Da sah sie, dass Seth ins Zimmer kam. Er war ganz in Schwarz: zerknitterte schwarze Cordhose und schwarzes Riesen-T-Shirt. Ein Umschlag steckte in seiner Brusttasche. Die Haare hatte er in einem Samurai-Knoten zurückgebunden, der eigentlich nur Johnny Depp stand. Mein Sohn ist ein Modemuffel, was soll ich bloß tun? Jolene hörte Tamis Stimme so laut und deutlich, dass ihr der Atem stockte. Für den Bruchteil einer Sekunde meinte sie ihre Freundin lächelnd und mit verschränkten Armen in der Ecke stehen zu sehen.
»Miss Z«, begann Seth und trat einen Schritt vor.
»Seth«, flüsterte sie mit einem Anflug von schlechtem Gewissen. »Ich hätte euch besuchen sollen. Aber ich war …«
»Ja«, erwiderte er. »Ich auch.«
Jolene fiel nichts ein, womit sie das quälende Schweigen hätte überbrücken können.
»Ihr Spind«, sagte Seth schließlich.
Da wusste Jolene, was er von ihr wollte. Aber das überstieg ihre Kräfte.
»Sie wollen, dass wir ihn ausräumen. Dad weiß nicht mal, wo er ist. Begleitest du mich zum Stützpunkt und holst mit mir ihre Sachen ab?«
Sie wollte ablehnen, schon wieder brannten ihr Tränen in den Augen, aber dann nickte sie und sagte: »Selbstverständlich, Seth. Nächste Woche vielleicht …«
»Heute«, mischte sich Michael ein. »Wir fahren alle.« Er trat zu ihr ans Bett und hielt ihr die Hand hin.
Sie starrte darauf. Im Moment fühlte sie sich so zerbrechlich, dass sie Angst hatte, sich von ihm berühren zu lassen. Aber Tami hatte sie gebeten, sich um Seth zu kümmern, und sie würde verdammt sein, wenn sie ihre beste Freundin im Stich
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