Zwischen uns das Meer (German Edition)
ließ! Sie zwang sich, Michaels Hand zu ergreifen und sich von ihm auf die Beine helfen zu lassen. Einen Moment lang blickte sie ihm in die Augen, sah, dass er ihr seine Stärke anbot, konnte sie aber nicht annehmen. »Ich mach mich fertig.« Sie warf Seth ein schwaches Lächeln zu.
Im Bad betrachtete sie sich im Spiegel. Ihr Gesicht war zwar verheilt, aber es sah anders aus. Schärfer. Härter. Ihre Wangenknochen ragten über ihren hohlen Wangen hervor; ihre Lippen waren bleich und aufgesprungen. Und an ihrem Kieferknochen zog sich eine dünne rosafarbene Narbe entlang. »Du schaffst das.«
Natürlich schaffst du das.
Wieder meinte sie Tamis Stimme zu hören, so nah diesmal, dass Jolene sich ruckartig umdrehte. Doch sie sah niemanden.
Sie humpelte in die Dusche. Als sie fertig war, föhnte sie sich die Haare, band sie zu einem Knoten zusammen und ging zu ihrem Schrank.
Ihre Uniform hing direkt vor ihr. Michael hatte sie wohl hergebracht. Aber sie war kein Soldat mehr.
Der Gedanke durchfuhr sie, bevor sie sich davor wappnen konnte.
Sie biss die Zähne zusammen und zog sich eine schwarze Hose und einen grauen Pulli an. Als sie ins Wohnzimmer kam, warteten Betsy und Lulu schon bei Michael. Seth stand mit verschränkten Armen etwas abseits.
»Okay«, sagte Jolene. »Gehen wir.«
Sie humpelte in die Garage und zog die Beifahrertür ihres SUV s auf. Dann hievte sie sich auf den Sitz.
Kurz darauf saßen die Kinder auf der Rückbank: Seth und Betsy zusammen, Lulu links von ihnen. Über den Rückspiegel sah Jolene, wie Betsy Seth am Unterarm stupste. Er blinzelte überrascht und zog sich die Kopfhörer aus den Ohren. Betsy beugte sich zu ihm und flüsterte etwas. Er sah sie an und riss die Augen auf, als sie lächelte.
Jolene wandte den Blick ab und betrachtete die graue Landschaft, die an ihnen vorbeiflog. Hier und da versuchte Michael Konversation zu betreiben, gab es aber bald auf, als sie nicht antwortete.
All ihre Gedanken kreisten um Tami. Ihre Freundin hätte jetzt im Wagen sitzen, die Musik aufdrehen und sagen sollen: Hey, Flygirl, heute Prince oder Madonna?
Als sie am Stützpunkt der Nationalgarde angekommen waren, spürte Jolene, wie Sehnsucht, Enttäuschung und Verlust sie überwältigten.
Sie hatte einen Großteil ihres Lebens hier verbracht. Und Tami war immer an ihrer Seite gewesen.
Sie parkten vor dem Hangar. Jolene wappnete sich innerlich. Es würde ein harter Tag werden, und nicht nur, weil sie stundenlang auf ihrer provisorischen Prothese laufen musste. Sie stieg aus dem SUV und wartete, mit beiden Füßen fest auf dem Boden, auf Seth.
»Lulu muss mal«, sagte Michael.
Jolene nickte. »Im Gebäude da drüben, rechts. Die erste Tür auf der linken Seite. Wir treffen uns dann am Wagen. Es … wird nicht lange dauern.«
Michael küsste sie leicht auf die Wange und flüsterte: »Das schaffst du, Jo.«
Sie erschauerte, als sie seine Lippen spürte.
»Ich geh mit Mom und Seth«, sagte Betsy leise.
Seth sah sie an. »Wirklich?«
Sie lächelte ihn scheu an. »Ja, wirklich.«
Jolene trat näher zu Seth und legte ihm die Hand auf die magere Schulter. »Bist du bereit?«
»Weiß ich nicht«, antwortete er.
»Dann sind wir schon zu zweit.«
Jolene führte ihn zum Hangar. Das letzte Mal war sie bei ihrer Einberufung hier gewesen …
Als sie die Schwelle überschritten und in die riesige Halle voller Helikopter, Frachtflugzeuge und Menschen in Uniform gingen, blieb Jolene plötzlich abrupt stehen.
Das hatte sie gar nicht vorgehabt. Kaum fiel ihr Blick auf den Black Hawk, konnte sie sich einfach nicht mehr rühren.
Heute fliege ich. Du sitzt rechts, keine Widerrede.
»Jolene?«
Als sie auf den Jungen neben sich blickte und merkte, wie blass und traurig er wirkte, vergaß sie eine Minute lang ihren eigenen Kummer. Sorge dafür, dass er weiß, wer ich war. »Sie hat das Fliegen geliebt«, sagte sie leise. »Das solltest du wissen. Sie liebte das Fliegen, aber du … warst ihr Leben, Seth. Sie hätte alles getan, um zu dir zurückzukommen.« Sie rang sich ein Lächeln ab. »Und sie hat falsch gesungen. Wusstest du das? Ich schwöre, wenn sie sang, heulten alle Hunde.«
Da traten ihm Tränen in die Augen.
Jolene starrte zum Helikopter hoch, durch dessen offene Tür man den Laderaum mit den Gurten und Metallboxen sehen konnte. Sie ließ Seths Hand los und setzte sich in Bewegung, auch das, ohne es beschlossen oder auch nur darüber nachgedacht zu haben. Sie ging einfach zum Hubschrauber und
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