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Zwischen uns das Meer (German Edition)

Zwischen uns das Meer (German Edition)

Titel: Zwischen uns das Meer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Hannah
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starrte ins Cockpit.
    Ihr Beinstumpf tat weh, als wollte er sie an etwas erinnern.
    »Kannst du noch fliegen?«, fragte Seth, der ihr gefolgt war.
    »Keinen Black Hawk mehr«, erwiderte sie und sah im Bruchteil einer Sekunde noch mal alles vor ihrem inneren Auge vorbeiziehen: die Ausbildung, Tami, das Aufsteigen in den blauen Himmel, das Herunterblicken auf blühende Bäume. »Aber ich habe es geliebt«, sagte sie, mehr zu sich selbst.
    Wie lange stand sie dort, starrte in ihre Vergangenheit und trauerte um den Verlust ihres Beins, ihrer besten Freundin und das Ende einer Ära?
    »Wirst du nie wieder fliegen können?«, fragte Betsy erstaunt.
    Darauf hatte Jolene keine Antwort.
    »Meine Mom würde sagen, dass man alles kann«, bemerkte Seth.
    Jolene nickte. Mit diesem einen Satz war Tami wieder so präsent, dass sie fast den Geruch ihres Gardenienshampoos riechen konnte. »Ja, das stimmt. Und wenn sie uns Jammergestalten hier herumlungern sehen würde, bekämen wir von ihr einen Tritt in den Hintern.«
    »So ist es«, bestätigte Seth und wischte sich die Tränen aus den Augen.
    »Also los, Leute.« Sie führte die beiden durch den Hangar zum Gang mit den Spinden. Betsy ging ein paar Schritte hinter ihnen.
    Jolene humpelte durch den engen Flur mit den Metallschränken. Bei Nummer 702 blieb sie stehen.
    »Ist das der Spind meiner Mom?«
    Jolene nickte und spürte, wie Betsy zu ihr trat. Sie zögerte eine Sekunde und drehte dann das Schloss in der richtigen Zahlenfolge. Klickend sprang die Tür auf.
    Am Boden des Metallschranks lagen ein Paar sandfarbener Stiefel, ein grünes T-Shirt, ein Helm und eine Wasserflasche aus Metall. Auf der Innenseite der Tür klebte ein Foto von Seth und Carl, dessen Ränder sich schon aufrollten. Jolene holte die einzelnen Sachen heraus und legte sie beiseite. Das Foto gab sie Seth.
    Dann sah sie den Brief. Es war ein einzelner, großer weißer Umschlag, auf dem Jolene stand.
    »Ich wusste, sie würde dir einen schreiben.« Seth fasste sich unwillkürlich an seine Brusttasche, aus der ebenfalls ein Umschlag ragte. »Das ist ihr Brief, für den Fall, dass sie stirbt.«
    Jolene konnte ihn nicht herausnehmen.
    »Glaubst du, sie hat es gewusst?«, fragte er und sah sie an.
    »Nein«, antwortete Jolene mit tränenerstickter Stimme. »Sie dachte, sie käme wieder nach Hause. Das wollte sie unbedingt. Für dich und deinen Dad.« Sie holte Luft. »Ich weiß, ich kann sie nicht ersetzen, Seth, aber ich werde dein ganzes Leben lang für dich da sein. Wenn du etwas brauchst – einen Rat in Liebesdingen, Fahrstunden, irgendwas –, dann kannst du zu mir kommen. Wir können über alles reden. Wenn du dazu bereit bist, können wir auch über deine Mom reden und darüber, wie sehr sie dich liebte und was sie sich für dich erhoffte. Ich zeig dir ein paar Fotos und erzähl dir ein paar Geschichten.«
    »Wenn ich bereit bin?«
    Jolene wusste, was er damit sagen wollte. Sie war auch noch nicht bereit. Tamis Brief würde sie erst später lesen können, wenn sie stärker war und sicher, dass es ihr nicht das Herz brechen würde. Verdammt – vielleicht würde sie ihn niemals lesen können!
    Am letzten Tag des Keller-Falls ging Eisregen über Seattle nieder. Michael hatte dafür gekämpft, dass die Geschworenen vor ihrer Urteilsfindung noch einmal genau über vorsätzlichen Mord und Mord im Affekt belehrt wurden. Denn die Staatsanwaltschaft hatte die Anklage von vorsätzlichem Mord auf Mord im Affekt und Totschlag erweitert, was für die Verteidigung ein gutes Zeichen war. Wochenlang hatte Michael Zeugen und Beweise zum Thema posttraumatische Belastungsstörung präsentiert. Er hatte eindringlich dafür plädiert, dass Keith unfähig war, überhaupt nur den Vorsatz zum Mord zu fassen. Ein Zeuge nach dem anderen hatte bestätigt, dass Keith seine Frau zutiefst und bedingungslos geliebt hatte. Selbst Emilys Mutter hatte unter Tränen gestanden, sie habe gemerkt, dass etwas mit Keith nicht stimmte, dass er irgendwie verstört wieder nach Hause gekommen sei und seine Tat schrecklich und tragisch sei, dass aber eine Haftstrafe keine Lösung bedeute. »Wir müssen einfach damit leben«, hatte sie geschlossen und sich die Augen abgetupft.
    Der Trumpf der Verteidigung war Keiths Zeugenaussage gewesen. Zwar barg es ein großes Risiko, ihn in den Zeugenstand zu rufen, aber Michael hatte gewusst, dass die Geschworenen Keith nur glauben würden, wenn sie die Geschichte aus seinem Mund hörten.
    Da Keith nicht

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